Der große Dulder

Nachruf Raimund Fellinger gab großer Literatur eine Form. Jetzt ist er viel zu früh gestorben

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„Nein, nein, machen Sie sich keine Sorgen“, beschwichtigt mich Fellinger Anfang 2018 am Telefon. Er sitzt in seinem Haus in Langen bei Frankfurt und kaut einen Apfel, ich halte nervös das Handy in der schweißnassen Hand, nur wenige Kilometer entfernt. Seit der Verlag 2010 aus der Frankfurter Lindenstraße ins vermeintlich kulturaffinere Berlin zog, pendelt Fellinger mit dem ICE zwischen Frankfurt und Berlin; begeistert ist er von dem Umzug nicht.

Er ist fast zärtlich, als er sich an diesem Frühlingsmorgen meine Sorgen anhört: Peter Handke hat uns - wider Erwarten - zu einem Interview in seinem Haus in Chaville bei Paris eingeladen und nun gilt es, sich bei dessen Lektor zu erkundigen, wie man diesen Besuch schadlos übersteht. Denn so feinfühlig der heutige Literaturnobelpreisträger wirken mag, so drakonisch kann er im direkten Umgang sein. Handke ist dafür bekannt, Menschen in wenigen Momenten demütigen zu können. Fellinger indes lässt sich nicht abbringen, dass Handke einen leben lassen würde. Der Journalist bleibt zweifelhaft.

Nichts anderes als Lesen

Was es nun schlussendlich war, kann niemand sagen, aber der Tag bei Handke war nicht nur vom Wetter her fantastisch. Der Schriftsteller war überaus aufgeschlossen, keine Spur von vernichtendem Jähzorn. „Sehen Sie, habe ich Ihnen doch gleich gesagt“, flottiert es aus dem Telefon, als ich Fellinger später anrufe. Das Interview wird eine viel beachtete Titelgeschichte des Freitag (34/2018).

Raimund Fellinger wird 1951 im Saarland in eine Bauernfamilie geboren. Der akademische Weg, den er mit einer Promotion abschließt, ist für ihn nicht vorgesehen. Auf einem Aufbaugymnasium für Kinder aus der Unterschicht, wie er es selbst nennt, absolviert er das Abitur als einer von nur noch fünfzig Schülern; begonnen hatten sie zu 250. Es katapultiert ihn in eine Welt des Intellekts. Mit Verleger Unseld, der zu Beginn als „Rugbyspieler der unter Intellektuelle gefallen ist“ verlacht wird, eint die Herkunft aus eher einfachen Verhältnissen. Im Gegensatz zu Unseld, gleicht Fellinger dies nicht mit Status aus. Was ihn selbst zum Lesen brachte, wüsste er nicht. Mit einem Tag ging nichts anderes mehr als Lesen.

Im stillen Kämmerlein

Fellinger sieht sich trotz seiner exponierten Stellung selbst nie als Objekt des öffentlichen Interesses. Dass er 2016 dem SZ-Magazin ein langes Interview gibt, darf als diplomatischer Glücksfall gelten. Er selbst will immer im stillen Kämmerlein werkeln, ganz unaufgeregt. Die Mode, Lektoren in den bibliographischen Angaben immer präsenter zu nennen, ist ihm zutiefst zuwider. Dagegen arbeitet er wie ein Besessener – bis ganz zum Schluss. Fellinger hat eine gewaltige Lebensleistung in der deutschen Literatur geschaffen. Denn neben den lektorierten Werken von Handke, Johnson, Bernhard, Andreas Maier und vielen weiteren bekannten Autoren, ist er ein beachtenswerter Herausgeber. Er bringt die Chroniken und Reiseberichte „seines“ Verlegers raus, sorgt für die wirklich phantastisch editierten Briefwechsel von Handke, Bernhard, Koeppen und Johnson mit ihrem Verleger Siegfried Unseld und ist generell immer schon am nächsten Projekt.

2006 wird er Cheflektor von Suhrkamp, 2010 auch des Insel-Verlags. Was ihn zum theorielastigsten deutschen Verlag mit Weltruf bringt, ist sein eigener. Siegfried Unseld wirbt ihn an, mehr als ein Mustergutachten ist nicht. Aus Unselds Schatten soll und will er nie heraustreten. Unseld stirbt 2002 nach schwerer Krankheit in seiner Villa in der Frankfurter Klettenbergstraße. Auch wenn Unseld Männern keine Zuneigung zeigen kann, so Fellinger, ruft er ihn und Fellinger begleitet Unselds letzte Lebensphase.

Der geniale Zweite

Fellinger ist der geborene geniale Zweite. Der Stille und Arbeiter. Während Unseld im Zweireiher den Weg bahnt, sitzt Fellinger still nebendran. Lange Haare, Vollbart, Kettenraucher. Er kommt mit den Marotten seiner international gefeierten Autoren klar. Er ist der "große Dulder". Statt dagegenzuhalten oder einen Krieg gewinnen zu wollen, setzt er auf diplomatische Defensive - mit Erfolg. Handke nennt ihn heute "einen Freund", wobei Fellinger bekennt, dass dies sich anlassbezogen sofort wieder ändern könne.

Ohne ihn wäre vieles bei Suhrkamp sicher nicht so formidabel gelaufen. Er betreut die edition suhrkamp, gibt der Insel-Bücherei wieder neuen Gestaltungsschwung und sorgt zum Beispiel dafür, das Ulrich Becks soziologisches Meisterwerk den Titel bekommt, den fast jeder Intellektuelle kennt: Risikogesellschaft. In den letzten Jahren schafft er die Werkausgabe von Bernhard und nicht zuletzt die Handke-Bibliothek. 2018 bringt er mit der Nachlassverwalterin von Jurek Becker einen viel beachteten Sammelband über die literarischen Postkarten des Schriftstellers heraus (Interview mit Christine Becker über Am Strand von Bochum ist allerhand los aus der Freitag 29/2018).

Der Eigenverlag

Eine ganz besondere Nähe verbindet ihn mit eben jenem Thomas Bernhard. Dies geht soweit, dass er nicht nur Präsident der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft (ITBG) wird, sondern auch seinen eigenen kleinen, in Österreich ansässigen Korrekturverlag gründet; mit Duldung des Suhrkamp Verlags. Im Korrekturverlag kann er nun als nebenberuflicher Verleger all das Bernhard-affine unterbringen, welches selbst für Suhrkamp zu stark „special interest“ wäre. Unter anderem die Dissertation über Thomas Bernhard von einem gewissen Andreas Maier, selbst Suhrkamp-Autor und von ihm inzwischen lektoriert. Mit Maier verbindet ihn eine fast väterliche Beziehung, in der mehrteiligen Youtube-Reihe Blauer Montag schwadronieren beide über Literatur und das Leben. Wer die scheinbare Langatmigkeit überwindet, wird viel über den „Betrieb“ erfahren.

Widmung? Sehr zögerlich

2018 treffe ich Raimund Fellinger auf der Frankfurter Buchmesse. Er sitzt, mal wieder ganz unaufgeregt, in einer Ecke. Nicht allzu lang davor brachte sein Korrekturverlag die Briefsammlung von Bernhards früherer Lektorin Anneliese Botond heraus. Die Bitte um eine Widmung, nimmt er sehr zögerlich an und kann sich dann doch nur dazu durchringen, beim Nachwort unter seinen Namen Unterschrift und Datum zu setzen. Die Nähe, die er am Telefon aufbrachte, ist im realen Zusammentreffen nicht da. Fellinger ist merkbar scheu und auf Distanz bedacht. Irgendwas beschäftigt ihn.

2013 ereilt Fellinger der erste gesundheitliche Tiefschlag. Mitten in der Krise des Suhrkamp-Verlags (die fast vernichtende Auseinandersetzung mit Teilhaber Hans Barlach) bricht er mit einem Schlaganfall zusammen. Als erstes soll er im Krankenhaus nach einer Ausgabe von Le Monde verlangt haben, berichtet Andreas Maier in einem der Youtube-Gespräche. Fellinger schmunzelt indes nur. Neben der Liebe zur Literatur, liebt er Frankreich, die französische Sprache und Küche. Und er schafft es, seine Sprachvermögen in sehr kurzer Zeit wiederzuerlangen. 2019 erlebt seine Karriere vielleicht den Höhepunkt: einer „seiner“ Autoren bekommt den Literaturnobelpreis zugesprochen. Fellinger reist nach Chaville; es wird in kleiner Runde bei Peter Handke gefeiert. Man freut sich für ihn, dass er das erleben kann. Denn leider ist Fellinger wieder schwer erkrankt. Er schlägt sich wacker, arbeitet weiter. Und er kann zur Verleihung des Nobelpreises an Handke nach Stockholm reisen.

Understatement pur

Vor wenigen Monaten mailen wir zum letzten Mal. Auch wenn ich weiß, dass eine Zusage unwahrscheinlich ist, will ich ihn für den Fragebogen des Freitag gewinnen.
Seine Antwort kommt prompt „von meinem iPhone gesendet“ – und wie erwartet:

Lieber Herr Behmann,
daran möchte ich mich nicht beteiligen.
Grüße, Grüße
Raimund Fellinger

Die Grüße, Grüße-Formel ist für ihn typisch. Denn hinter aller Wortkargheit und Stille, ist Fellinger ein zugewandter, herzlicher Geist. Aber eben nicht der „eloquent-lässige Typ“, wie er selbst über sich zu sagen pflegt. Raimund Fellinger bleibt sich und der Literatur immer treu.
Er ist ein Meister seines stillen Fachs, er leistet Enormes in über vierzig Jahren für den Suhrkamp Verlag. Am 25. April stirbt Raimund Fellinger viel zu früh, mit erst achtundsechzig Jahren, nach langer, schwerer Krankheit in Frankfurt am Main.

Andreas Maier im Telefoninterview auf hr2 zum Tode Raimund Fellingers.

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