Der literarische Gourmet

Romane Thommie Bayer wird nie die großen Literaturpreise erhalten. Dabei ist sein Werk an Herzenswärme kaum zu überbieten

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

"Da passiert nichts? Oh, doch, Ihr Liegenreservierer, darin liegt eben sehr viel!"
"Da passiert nichts? Oh, doch, Ihr Liegenreservierer, darin liegt eben sehr viel!"

Joel Saget/AFP/Getty Images

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wenn etwas für mich das Erwachsenensein symbolisiert, dann nachts tun und lassen zu können, was man will. Und eben nicht das, an was Sie nun gerade denken.

Es ist 4:16 Uhr, an einem Brückenfreitag und in der Küche simmern Weißwürste im Kochtopf. Die Vögel haben pünktlich das Singen begonnen, als ich den Roman von Thommie Bayer Singvogel beiseitelegte. Mehr Freiheit, als einen spannendes Buch zuende zu lesen, dann begierig sich ein Räuberfrühstück zu kreieren und über das Erlebte zu sinnieren – was will man mehr?

Warum spricht mich Thommie Bayers Art so an? Vielleicht, weil er meinem Vater ähnlich ist. Fast gleicher Jahrgang, immer am quarzen, dabei am sinnieren, Blick in die Ferne. Gerne mit Cappuccino, abends mit Wein. Genießer. Heute, eher selten.

Mein Jahrgang sinniert wenig, außer über Bausparertipps, man hält seinen Score in einer Fitnessapp, agieren ist angesagt. Alles sehr kompetitiv, ungern Schwäche zeigend. So jünger der Jahrgang, umso weniger verirrt man sich. Man ist früh mit dem Studium fertig, weiß früh seinen Weg. Und zieht dann durch.

Bayer zieht auch durch, aber auf seine Art und Weise. In der Konstanz des sinnierenden Seins, des denkenden homo sapiens, der sich eben nicht leistungskonform gibt und dabei seine Kontur so sehr dem Kollektiv anheimgibt, um nicht desintegriert zu werden.

Und Cover, sind es doch

Der Weg zu einem Buch ist manchmal verworren. Und, das wird den Piper-Verlag freuen, bei Bayer waren es für mich die Cover. Seltene Affären war mein Einstieg ins Bayerversum. Ein distinguierter, wenngleich auch verlorener Mann, der sein Leben in zwei Hälften, zwei Orte teilt. Immer mit leckerem Essen, gutem Wein und Kaffee.

„Muss mir das peinlich sein?“, fragte ich meinen Buchhändler, mit dem ich mehr plaudere, als ihm zu vertrauen, Bayers Buch in den Händen haltend. Zwar liegt der verlässlich auf dem Literaturtisch, aber irgendwie fühlt man eine Dissonanz. „Naja, eigentlich schon, aber weil du es bist…“, antwortet er, genau wissend, dass seine Meinung schlussendlich keine Relevanz für mich hat. Ein Irrglaube vieler Menschen, ein anderer Mensch könne ihnen etwas verbindlich empfehlen. Bei mir nicht, ich lese das, was mir gefällt, sonst nichts. Herdentrieb null. Das ist keine Haltung, keine Öffentlichkeitspose, das war nur schon immer so.

Da ist sie nämlich wieder. Diese Konstanz. Bayer überträgt, ohne dies zu leugnen, sein Sein in seine Figuren. Das ist autobiographisch geprägt. Für Suter funktioniert das nicht, für mich funktionieren aber Stories um pinke Elefanten eben auch nicht (Suter aber, ist cool).

Genuss, überall

Der Genuss schwingt immerzu in allen seinen Texten, ohne eine Plakativität des Unangenehmen zu entwickeln. Warum denn auch nicht?, fragt mein morgendlich innervierter Geist, jetzt wo es auf halb fünf zugeht und die Verve des gelesenen Romans mich zu begeisterten Höhenflügen anstachelt.
Aber so darf das eben nicht sein. Herzenswärme, Milde, Güte, Genuss. Alles eklig, zu verabscheuen, krächzt die Literaturkritik. Freundlichkeit? Bitte nur in eng abgesteckten, dem eigenen Nutzen dienlichen Grenzen.

Mit Das innere Ausland, seinem aktuellen Buch, erzählt Bayer die Geschichte des pensionierten Schlafwagenschaffners Andreas Vollmann. Einem eigentlich unauffälligen Mann in den Sechzigern, der mit seiner Schwester an eine Haushälfte in Frankreich gerät. Die Schwester stirbt gleich zu Beginn und der Hauptplot besteht aus Kaffeetrinken, Spazierengehen und Genießen. Grässlich, denkt da die Fitzek-Leseschar, da passiert ja gar nichts!

Oh, doch, Ihr Liegenreservierer, darin liegt eben sehr viel! Dem Aushalten des Lebenstimbres ist eine der Grundkünste des Lebens. Dem die meisten aber nicht mehr annähernd habhaft werden. Und, Bayer gibt durch fundamentale Rückblicke den Mosaiken der Jetztzeit eine Logik. Was Bayer bei allen seinen Geschichten immer wieder schafft: es nicht geschehen zu lassen. Das logische, das plumpe, das frivole. Er reitet auf Messers Schneide, er spielt mit der Profanität unser aller Gedanken und dieses Zittern über dem Abgrund lässt die Wärme der Zwischenmenschlichkeit entstehen, die seine Romane ausmacht. Es wird nicht laut, wild, raufend – nie schrill. Nie RTL 2.

Tür zu, Roman auf

Ich schrieb Ihnen ja, der Weg zu einem Buch kann verworren sein. Heute der, auf jedenfall. Ich wollte mir nur kurz einen Kaffee holen – dabei schloss ich mich aus meiner Wohnung aus. Die Lust auf Genuss schaltete das Gehirn aus. Mein eigentliches Buch (Durch die Nacht von Stig Saeterbakken, erscheint am 12.07. bei Dumont) lag noch aufgeschlagen auf dem Balkontisch, als ein Gewitter mit Starkregen über die Region zog und es in einen verwaschenen Haufen verwandelte. Mein Vermieter, der Goldmensch, rettete meine Autorenhonorare, weil er wagemutig mit einer Leiter auf meinen Balkon kletterte und die Wohnung öffnete.

Bei einer Schlüsseldienstrechnung am Feiertag hätte ich danach wohl nicht noch eine Entspannungsrunde durchs Dorf gedreht. Viel gibt es hier eigentlich nicht zu sehen, ich streunere dennoch gerne durch die Gegend und mache gesellschaftliche Bestandsaufnahmen. Der Bücherschrank ist hier eher ein verwaistes Objekt mit wenig Umschlag (vielleicht behält man hier einfach gerne seine Bücher?). Doch dieses Mal stand etwas spannendes im Schrank: Singvogel von…ja…Thommie Bayer, 3. Auflage 2005, gesetzt aus der Bembo.

Von 01:30 Uhr bis 03:55 durchzog ich die 200 Seiten in gierigem, aber langesamen Lesefluss. So, wie ich auch keinen Cappuccino stürzen kann. Er wird langsam, Schluck um Schluck getrunken. Achten Sie mal darauf, wer das sonst noch macht. Cappuccino kommt, Schluck, Zahlen, bitte! Naja, meist ohne Bitte.

Die Vögel singen, nicht nur im Roman

Im Singvogel tänzelt Bayer mit der Idee, was wäre, wenn eine junge, schreibtalentierte Frau ihm eine bezirzende Email schreibt. Er lässt einen erlesenen Email-Dialog geschehen, verschmolzen mit dem Fortgang der Handlung aus Ich-Erzähler-Perspektive.

Auf die Schliche bin ich ihm bis zum Ende nicht gekommen, immer wieder lupfte er eine Wendung, immer wieder überraschte er. Und ja, immer nah am Klischee, manchmal nah an bekanntem Erzählen (aber wer ist das nicht?), und doch bayert er alle Momente mit diesem Mut des nicht-geschehen-lassens und damit gibt er der Möglichkeit einen Raum, im Leser zu geschehen.

Bayer hat Mut. Den braucht er auch. Im Literaturbetrieb.

Draußen ist es hell, kurz nach fünf, die Vögel singen aus voller Kehle und ich, ich gehe nun ins Bett. Besser kann der Tag nicht starten.

Schlafen Sie gut,
Ihr Jan C. Behmann

Singvogel Thommie Bayer, Piper 2006, 208 S., 9,99€ (Taschenbuch)
Das innere Ausland Thommie Bayer, Piper 2018, 176 S., 20€
Seltene Affären Thommie Bayer, Piper 2018, 192 S., 10€ (Taschenbuch)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden