Die Figuren auf sich selbst zurückwerfen

Interview Thommie Bayer schreibt Bestseller für Bestseller. Der Autor schafft dabei mehr an Inhalt als ihm Bildungsbürger zutrauen

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„Ich belausche die Figuren“, sagt Thommie Bayer
„Ich belausche die Figuren“, sagt Thommie Bayer

Foto: Peter von Felbert/Piper Verlag

Jan C. Behmann: Fangen wir mit etwas Lustigem an: Das Autohaus in Ihrem neuen Buch, ist das, wo ich meine Autos lease. Wie klein ist die Welt?
Thommie Bayer: Da sagt man immer, solche Dinge passieren nicht in der Wirklichkeit, nur in schlechten Büchern oder lustigen Filmen, aber sie passieren eben doch.

Wie und warum fanden Sie denn genau dieses Autohaus?
Man fragt heutzutage einfach das Internet und schaut sich dann auf Google Maps genauer um. Ich wollte, dass die Erinnerung an die Mutter und an Wertheim sich von der Seite ins Geschehen schleicht. Den Wohnort meiner Figur Nürnberg und den Geburtsort Wertheim hatte ich schon festgelegt, also brauchte ich eine Strecke, die das ermöglicht, und da bot sich Frankfurt als Zielort an.

Erzählen Sie mir genau, wann und wo Sie auf den Plot des neuen Buches kamen.
Das weiß ich nicht mehr. Über eine Mutter-Sohn-Geschichte habe ich schon lange nachgedacht, aber an den Moment, in dem sich die Figuren auftaten und Umrisse bekamen, kann ich mich nicht mehr erinnern. Das fließt meistens einfach so ineinander und auf einmal gibt es einen Anfang, und dann geht es weiter, und dann wird es eine Geschichte.

„Reisen hält die Sehnsucht wach“

Beschreiben Sie mir das Gefühl, welches das Buch in Ihnen selber auslöst.
Ich müsste das Buch nochmal lesen, um ein beschreibbares Gefühl dazu zu entdecken. Während des Schreibens fühle ich mit und erlebe, was die Figuren erleben, aber am Ende, wenn das Buch dann fertig lektoriert und überarbeitet ist, ähnelt es eher einem Mosaik aus lauter einzelnen Szenen oder Bildern, dessen Gesamtbild ich nicht mehr klar erkennen kann.

Was bedeutet Reisen für Sie?
Es hält die Sehnsucht wach, es beflügelt die Gedanken, es relativiert manches Festgefahrene, ermöglicht Perspektivwechsel und bringt mich direkt zu erhebenden Anblicken von Natur, Kultur, Zivilisation und Geschichte.

Sind die Reisebeschränkungen eine Zensur für Ihr Leben?
Ja. Sie sind fürchterlich.

Wie geht es Ihrem Leben in Zeiten von Corona?
Da wir sehr schön wohnen und unsere Arbeit weitermachen können, ich am Schreibtisch und meine Frau in ihrer Praxis, sind wir nicht ganz und gar aus der Bahn geworfen, aber mir fehlen die Lesungen, die Begegnungen mit den Leuten, für die meine Arbeit einen Wert hat, und der Gedanke an alle, denen jetzt ihre Existenz genommen wird, macht mich verzweifelt.

Können Sie besser oder schlechter durch die Einschränkungen schreiben?
Ich hatte im ersten Lockdown einen gewaltigen Kreativitätsschub. Ich habe etwa fünfzig Musikstücke komponiert, ein neues Buch geschrieben, und inzwischen male ich sogar wieder. Aber jetzt arbeite ich daran, Netflix leerzugucken und lese und warte auf eine neue haltbare Idee.

Ohne Auto, kein Bayer

Ihre Romane spielen gerne in Südeuropa. Warum wohnen Sie noch in Deutschland?
Unser Italienisch ist noch nicht gut genug, und in Frankreich gibt es kein vegetarisches Essen, die Schweiz ist zu teuer, und Österreich liegt gar nicht im Süden… Nein, im Ernst: Es ist wunderschön, da wo wir leben. Es ist Heimat.

Wie würde Thommie Bayer ohne Auto funktionieren?
Meinen Sie den Menschen oder den Geschichtenerzähler? Dem Menschen würde etwas Bedeutendes fehlen. Das Auto ist für mich ein Kultgegenstand, eine großartige Errungenschaft der menschlichen Kultur, wenn es schön ist, sogar ein Quell der Freude und Begeisterung, und da ich in einer Kleinstadt lebe, auch ein Utensil des alltäglichen Lebens. Und nicht zuletzt ein Garant von Freiheit. Als Geschichtenerzähler könnte ich meine Figuren auch anders in Bewegung versetzen. Klar.

Was bedeutet Lebensgenuss in Form von Essen und Rauchen für Sie?
Die Antwort liegt schon in der Frage. Genuss. Freude.

Heute zählt man lieber Schritte und punktet mit low-carb-Ernährungsprogrammen. Sind Sie ein Protagonist einer sich verwehenden Zeit?
Ein Auslaufmodell? Alter weißer Mann? Ewiggestrig? Bildungsbürger? Dandy? Vermutlich schon.

„Heute sind meine Erinnerungen an sie nur noch zärtlich“

Was bedeutet Ihre Mutter für Sie?
Das, was vermutlich viele Mütter für viele Söhne bedeuten. Die erste Frau im Leben, die, von der man lernte, was Ritterlichkeit bedeutet, die, die einen, zumindest eine Zeitlang, forderungslos geliebt hat, deren Liebe man selbst vielleicht nicht oder erst zu spät ebenso forderungslos erwidern konnte, der man nicht zugehört hat, von der man sich nicht verstanden fühlte, deren Weltsicht und Lebenserfahrung man mit Herablassung belächelt hat. Sosehr sie mich früher genervt hat, inzwischen sind meine Erinnerungen an sie nur noch zärtlich und zugeneigt.

Warum war Ihnen das Etablieren einer nicht anwesenden Mutterfigur in diesem Buch wichtig?
Dass sie nicht mehr anwesend ist, wirft den Sohn auf sich selbst zurück, sodass er anders und klarer über sie nachdenken kann. Er reagiert nicht mehr auf sie, das Verhältnis ist nicht mehr alltäglich – so kann er sich selbst gegenüber ehrlicher sein als vorher. Er kann sie als einen Menschen sehen, der ein eigenes Leben hatte, in dem der Sohn nur ein Teil des Ganzen war. Wenn man so will, kann der Sohn jetzt seinen Narzissmus ablegen. Oder wenigstens erkennen.

Sie binden gerne verstorbene Protagonisten in Ihre Handlungen ein. Was bewirken diese Figuren für die Handlungen zwischen den lebenden Personen?
Der Tod verleiht ihnen eine Würde und eine Festigkeit, die sie lebendig vielleicht nicht hatten. Sie sind als Menschen ganz und rund und abgeschlossen. Sie verändern sich nicht mehr. Sie sind ein Gegenpol, ein Ruhepol, Geister. Für die Lebenden können sie verlorene Heimat, verlorene Liebe, verlorene Sicherheit darstellen oder auch Wegweiser in die neblige Zukunft, die nach dem Tod vielleicht auf uns wartet.

Was war der erste Kommentar, welchen Ihre Frau als Erstleserin zum neuen Manuskript geäußert hat?
Das weiß ich leider nicht mehr.

Der Gang der Dinge, der Figuren

An was sind Sie bei diesem Text zuerst verzweifelt? Gab es inhaltliche Hürden?
Es gab wie immer diese Momente, in denen es nicht weitergehen wollte, aber jetzt weiß ich wie immer nicht mehr, was für Momente das waren. Ob mir die Kraft fehlte, oder ob es eine dramaturgische Nuss zu knacken gab, oder ich mich verfahren hatte – weg. Schnee von Gestern.

Was hat sich fundamental am Plot noch geändert?
Ich hatte anfangs vor, es auf Täuschung, Verführung und kaltes Abservieren hinauslaufen zu lassen, aber dann hatten die Figuren wie so oft andere Pläne.

Ihre Bücher verströmen eine angenehme Form der liebevollen Gleichförmigkeit. Sie sind wie ein Lieblingskissen, auf das man sich immer wieder gerne legt. Die Plotsystematik läuft immer auf eine Resonanzraumschaffung von (in der Regel) zwei Personen hinaus. Was für Gedanken und Emotionen oszillieren dann in Ihnen und welche Themen eruieren Sie für sich bei der Dialogschaffung?
Immer das, wovon ich glaube, dass es die Figuren antreibt. Genauer weiß ich es leider nicht. Ich belausche sie, wenn es gut läuft und bilde mir ein, dass ich denke, was sie denken und fühle, was sie fühlen.

Thommie Bayer: Das Glück meiner Mutter, Piper Verlag 2021, 22€

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