„Ein Skandal, dass es passieren wird“

Leben Der Schriftsteller Thommie Bayer feierte vor kurzem seinen achtundsechzigsten Geburtstag. Was bedeutet für ihn die Endlichkeit des Lebens?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

„Der eigene Tod geht nur andere etwas an. Sie verlieren mich. Ich selbst kann mich nicht verlieren, ich höre nur auf, zu existieren.“
„Der eigene Tod geht nur andere etwas an. Sie verlieren mich. Ich selbst kann mich nicht verlieren, ich höre nur auf, zu existieren.“

Foto: teutopress/IMAGO

Triggerwarnung: Dieses Interview beschäftigt sich mit der Endlichkeit des Lebens. Wenn Sie vermuten, dass dieses Thema dunkle Gedanken in Ihnen auslöst, lesen Sie den Text bitte nicht. Weitere Hinweise finden Sie dazu in der Infobox am Ende des Textes.

Musikalischer Hörtipp

Elo: Mr Blue Sky

Jan C. Behmann: Was bedeutet es, alt werden zu dürfen?

Thommie Bayer: Vielleicht einfach ein Geschenk, wenn man glücklich ist und eine weitere Plage, wenn nicht?

Der Sohn eines Freundes, hat es leider nicht erlebt, erwachsen zu werden. Wie würden Sie dem Sohn beschreiben, was es bedeutet, älter zu werden?

Ich käme mir gemein vor, ihm in den eventuell schönsten Farben etwas zu beschreiben, das er nicht haben wird.

Wann dachten Sie das erste Mal, das Alter für Sie selbst relevant war?

In Wirklichkeit weiß ich noch gar nicht, dass ich alt bin. Der Spiegel behauptet es manchmal, die Zahlen behaupten es, die verlorenen Geschwister und Freunde sagen es ganz deutlich, aber bei mir kommt die Botschaft, dass ich jetzt alt bin und in absehbarer Zeit sterben werde, noch nicht so richtig an.

Was sind für Sie Malaisen des Alters?

Die sind auch noch nicht so richtig bei mir angekommen. Das darf gern noch eine Weile so bleiben.

„Alles bleibt ans Individuum gebunden“

Macht der Tod alle Menschen schlussendlich gleich?

Nur gleich tot. Alles andere unterscheidet sie weiterhin: Was sie hinterlassen, ob jemand sie vermisst, ob ihnen Trauer oder Erleichterung nachgetragen wird, wie man sich an sie erinnert – all das bleibt ans Individuum gebunden und unterscheidet weiterhin den einen vom andern.

Stellen Sie sich Sterben vor?

Nein. Ich weiß, dass es passieren wird, und es ist ein Skandal, dass es passieren wird, aber wie es passieren wird, werde ich erst dann wissen, wenn ich nicht mehr davon erzählen kann.

Sie sind auch Musiker, da ist ja frühes Ableben manchmal en vogue und Teil des künstlerischen Prozesses. Warum ist das so?

Helden bezahlen oft mit ihrem Leben.

Ist der Tod anderer nicht viel relevanter, weil es die einzigen Tode sind, die wir „erleben“ können?

Ja. Der eigene Tod geht nur andere etwas an. Sie verlieren mich. Ich selbst kann mich nicht verlieren, ich höre nur auf, zu existieren.

Was wäre ein Leben ohne Tod?

Ausgeschlossen. Das eine gibt es nur mit dem anderen.

Trauer um sich selber?

Gilt es diese eigentlich alles Alltägliche ins Lächerliche ziehende „Tatsache des Todes“ (Thomas Bernhard) zu verdrängen, um funktional zu bleiben?

Unbedingt. Was sollte man sonst tun? Um sich selber trauern?

Musikalischer Hörtipp

Thirteen Senses: Into the fire

Wie verdrängen Sie die Endlichkeit?

Ich glaube, ich muss die nicht extra verdrängen, sie ist erst dran, wenn sie dran ist. Jetzt nicht. Vielleicht in zwei Wochen, zwei Monaten, zwei Jahren – zwei Jahrzehnte werden es wohl nicht mehr sein.

Was bleibt von Thommie Bayer auf dieser Welt?

Es ist zwar verlockend, darüber nachzudenken, aber es ist auch eitel, deshalb will ich das lieber sein lassen. Das sollen andere sagen.

Karl Lagerfeld wollte spurlos verschwinden, Wolfgang Grupp hat eine Grabtafel ohne tot zu sein. Was sagt der posthume Gestaltungswille über das gelebte Leben?

Vielleicht deutet er auf eine gewisse Kontrollsucht hin, vielleicht aber auch auf einen Charakter, der sich selbst verantworten will – sogar über den eigenen Tod hinaus.

Reisen ist für Sie wichtig. In Ihrem Roman „Fallers letzte Reise“, lassen Sie den Protagonisten eine letzte Runde zu seinen Hotspots im Leben drehen. Wie wäre Ihre Reiseroute?

Da täuscht Sie die Erinnerung. Der Titel war erstens Fallers große Liebe, und zweitens ist der, der die Hotspots seines Lebens abklappert, der Typ bei Nick Hornby (High Fidelity) und sein Echo, der Typ bei Frank Goosen (Liegen lernen) – mein Faller wickelt sein Leben ab, verteilt seinen Besitz an die, die es wert sind, und geht ohne zu klagen, weil es soweit ist. Aber Ihre eigentliche Frage ist ja die, nach den Orten, die ich in solch einem Falle abklappern würde. Ich glaube, es wären nicht Orte, die mit bestimmten Menschen verbunden sind, sondern Orte, an denen ich einen Geist zu spüren geglaubt habe: Venedig, Rom, Aix en Provence, New York, Berlin, meine Kindheits- und Jugendorte Esslingen, Stuttgart und Tübingen, Siena, Paris, Florenz, Lucca, Dublin, Zürich, Bern – sicher fallen mir jetzt manche nicht ein, die im Ernstfall noch dazukämen.

„Ich fühle das Alter nicht“

Ist das Besuchen der Paradise der Vergangenheit nicht auch tragisch-traurig?

Bestimmt ist es das.

Wie hat sich das Gefühl Ihres Selbst zur Welt verändert?

Vielleicht halte ich es nicht mehr für selbstverständlich, dass irgendwer mich wahrnimmt, sondern für eine Gnade, ein Geschenk, ein Glück.

Haben Sie eine andere Resonanz zur Welt oder die Welt eine andere Resonanz zu Ihnen entwickelt?

Was die Welt entwickelt haben könnte, weiß ich natürlich nicht, aber ich weiß, dass die Entfernung zunimmt. Die Welt, an deren Gestaltung ich einen winzigen Anteil gehabt haben könnte, wird gerade abgewickelt – sie wird mir weggenommen – es kommt auf meine Sicht der Dinge nicht mehr an.

Musikalischer Hörtipp

Nat Simons: Learning to fly (Cover Tom Petty)

Wenn Sie in sich fühlen, fühlen Sie Ihr Alter?

Nein. Ich weiß es, aber ich fühle es nicht.

Was bedeutet es für Sie, Alter zu fühlen?

Vielleicht weiß ich in ein paar Jahren die Antwort auf diese Frage.

Kann man über Nacht altern?

Ich denke ja. Ich weiß von einem NDR-Redakteur, der in der Nacht, in der seine Tochter ermordet wurde, weiße Haare bekommen hat.

Wolfgang Huber nennt den Tod eine „heilsame Grenze“. Für Dritte kann man sich das vielleicht imaginieren, aber für sich selbst?

Nein. Licht aus und nichts.

Musikalischer Hörtipp

Sam Cooke: Wonderful World

Ein Leben nach dem Tod, scheint eine sehr menschliche Idee zu sein. Ein Fehler im Denken von Wesen, die nicht gänzlich denken können. Glauben Sie an etwas?

An die Liebe glaube ich. Dass sie eine lebens- und charakterverändernde Kraft hat, an den Anstand glaube ich, und daran, dass Schönheit etwas Heiliges ist, dass das Gute nie verschwinden aber auch nie siegen wird. Die Vorstellung, die, die man liebt, nach dem Tode wiederzusehen, ist schön, ich mag diese Vorstellung, aber glauben kann ich sie nicht. Was wäre dann mit denen, die man nicht liebte? Die müssten dann dort doch auch herumstehen. Ich möchte nicht auf Heinrich Himmler oder Pol Pot treffen. Meine Frau ist sich sicher, dass man als reiner Geist ohne die Bürden des Lebens ins Licht geht, und ich wünsche mir, sie möge recht haben, aber ich wünsche es mir nur, ich glaube es nicht.

Sie sind leidenschaftlicher Raucher. Nagt aber dieser stete Grenzübertritt aus der heutigen Gesundheitszone nicht doch manchmal an Ihnen?

Nein. Ich fühle mich sicher. Die Zigaretten, die ich rauche, sind ultraleicht, ich habe noch einen Filter in der Zigarettenspitze zusätzlich, das, was ich meinen Bronchien und meiner Lunge antue, entspricht etwa vier normalen Zigaretten am Tag, ich bin kein Schreiner, Lackierer, Straßenbauer, Motorbastler – ich atme sonst keinen Dreck ein – das geht schon gut.

Ist Rauchen einen Tod wert?

Letztlich bezahlen wir für alles mit dem Tod, und vielleicht läuft unsere individuelle Lebensuhr zu einem schon bei unserer Geburt festgelegten Zeitpunkt ab, jedenfalls dann, wenn wir nicht von Unfall, Mord oder Krieg herausgerissen werden, da ist es ein bisschen skurril, sich auf eine einzige Ursache festzulegen. Und selbst wenn es dieses Laster wäre – wieviel Freude habe ich daran, wieviel Entspannung, Konzentration, Genuss, und wie bitter ist dann der Tod? Das weiß man wohl erst, wenn man stirbt oder gar erst dann, wenn man gestorben ist. Ich habe also keine Antwort auf diese Frage.

„Mein Leben ist ein Unikat“

„Ewig lebt, wer nie gelebt hat“, sagte Ernst Jandl. Hat er recht?

Auch der stirbt. Also nein. Jandl hatte damit sicher nicht recht. Aber die poetische Aussage ist stark.

Wenn man seinen Todestag wüsste, wäre das eine Erleichterung?

Ich glaube nicht. Aber es wäre sicher eine gute Geschichte.

Sie müssten Ihr Leben nochmal genauso leben, wie es war. Wäre das nicht eine Bürde, da man bestimmte Lebensphasen nicht nochmal durchstehen will?

Guter Gedanke, aber sicher unmöglich. Es gibt keine zwei gleichen Male. Die kann es nicht geben. In dem Leben, das ich gelebt habe, habe ich Entscheidungen getroffen, wenn ich das noch einmal leben müsste, wären mir Entscheidungen verwehrt, sonst könnte es ja nicht gleich sein – wenn ich also jetzt noch einmal an dieselben Punkte käme, würde ich anders entscheiden, weil ich ja was dazugelernt habe – mein Leben ist natürlich ein Unikat, so wie ich eines bin – müßig, sich zu überlegen, wie die Wiederholung wäre. Es kann sie nicht geben.

Musikalischer Hörtipp

CATCHY: Du hast den Farbfilm vergessen (Cover Nina Hagen)

Oft sprechen Menschen davon, im Alter gelassener zu sein. Wahrheit oder Floskel?

Wahrheit.

Woran sind Sie im Leben gereift?

Bestimmt an den eigenen Fehlern. Aber auch an allem, was sich darüber hinaus dazulernen ließ im Laufe der Jahre.

„Meine Frau ist meine Muse“

Was oder wen beschauen Sie heute diametral zu früher?

Die Frauen. Heute weiß ich, es gibt auch unsympathische.

Rente ist für die meisten Menschen die imaginierte Grenze in ein vermeintlich selbstbestimmtes Leben, bedeutet dann aber doch oft eine tiefe Krise. Wann wussten Sie, dass Rente für Sie kein Thema wird?

Aus meiner Arbeit als Drehbuchautor und einer Lebensversicherung, in die ich seit meinem dreißigsten Lebensjahr eingezahlt habe, bekomme ich ein bisschen Rente, also ist es doch ein Thema für mich geworden, aber mein Leben habe ich die meiste Zeit als selbstbestimmt empfunden, auch wenn ich mich hin und wieder irgendeinem ungeliebten Imperativ gebeugt habe – es war immer meine Entscheidung, mich zu beugen, also war es immer selbstbestimmt. Die tiefe Krise, in die man stürzt, wenn man auf einmal keine Bedeutung für andere mehr hat, nicht mehr gebraucht wird, nicht mehr um Hilfe gebeten wird, wo man doch helfen könnte, die ist zum Glück für Leute wie mich nicht vorgesehen. Solange ich schreiben und veröffentlichen kann, kann ich mir auch Menschen vorstellen, die das lesen wollen, die mich brauchen, die mich fragen, die etwas von mir erwarten. Möge es noch lange so weitergehen. Aber vor allem anderen braucht meine Frau mich. Das ist schon ein Leben. Selbst wenn ich keine Idee mehr hätte, wenn ich verstummen müsste, wenn niemand mehr etwas von mir lesen wollte, wäre meine Frau noch da, die mich braucht. Die fremden Menschen, die sich mit meiner Gedankenwelt verbünden, sind gut für meinen Stolz, für mein Selbstwertgefühl, für meine Seele, aber wenn die alle mir den Rücken zudrehen würden, wäre da noch immer meine Frau, für die ich von Bedeutung bin.

Man könne das Leben nicht verlängen, aber verdichten, sagte Roger Willemsen. Wie und wann haben Sie Ihr Leben verdichtet?

Ich denke, ohne es zu wissen, von Anfang an. Seit ich wusste oder ahnte, dass ich ein Künstler bin, seit ich das Gefühl bekam, meine Empfindungen, Entdeckungen und Fortschritte könnten für andere von Wert sein.

Thommie Bayer darf sich ewiges Leben erschreiben. Täte er es auch?

Nein. Es ist kostbar, weil es endet.

Musikalischer Hörtipp
Journey:
Don't Stop Believin'

Hinweis: Die musikalischen Hörtipps wurden von Jan C. Behmann zusammengestellt.

Hinweis

Sind Sie einsam, depressiv oder haben Suizidgedanken?

Bitte kontaktieren Sie umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Sie erreichen diese unter den kostenlosen Telefonnummern 0800-1110111 oder 0800-1110222. Die dortigen Berater zeigen Ihnen Wege aus schwierigen Situationen auf und werden Ihnen helfen.

In lebensbedrohlichen Fällen oder im Zweifel, rufen Sie den Notruf unter 112 oder die Polizei unter 110. Dies gilt auch, wenn Sie vermuten, das andere Menschen sich in akuter Gefahr befinden. Auch wenn Menschen im Internet im Zweifelsfalle Lebensbedrohliches ankündigen, nutzen Sie umgehend den Notruf der Polizei unter 110.

Wer ist Thommie Bayer?

Thommie Bayer lebt mit seiner Frau, einer Psychoanalytikerin, in einer malerisch gelegenen Wohnung in Staufen im Breisgau. Dort schreibt er mit einem herrlichen Ausblick seit Jahren erfolgreiche Romane, die im Piper-Verlag erscheinen. Geboren wurde Bayer 1953 in Esslingen. Erst als er mit der Musik scheiterte, begann er zu schreiben und verfasst seitdem alle zwei Jahre verlässlich einen Bestseller. Bayer, ein hochgewachsener Mann mit schmalem Gesicht und zartem Timbre, raucht seine „Ultralights“ mittels einer Zigarettenspitze und reist, wie seine Protagonisten, gerne mit dem Auto durch schöne Gegenden, trinkt noch lieber Cappuccino und genießt die mediterranen Momente des Lebens.

Kritiker verwehren ihm den literarischen Erfolg ob der Leichtigkeit und Liebenswürdigkeit seiner Texte. Die scheinbare Leichtigkeit ist dabei aber eine menschenaffine Weise, die Wärme mit Selbstreflexion zu verbinden und damit eine Melange aus erwartbarer Wiederkehr der inneren Textschwingung mit jeweils buchgebundenen Erzählhaltungen zu erschaffen. Seine Frau sei seine Muse, sagte er in einem der vorigen Interviews. Für sie sei Kunst nichts absurdes, was es für die meisten Menschen sei. Wahrscheinlich ist Bayer einer der wenigen Menschen, der die Liebe in ihrem Kern erobert hat und dies erfolgreich in seine Werke einfließen lassen kann und deshalb nie kitschig wird.

Trotz seines Erfolges, der ihm als einem der wenigen Autor*innen, ein unabhängiges Leben ermöglicht, ist Bayer nahbar, höflich und herzlich im Umgang. Er ist weit weg von jedweder Allür.

2021 erschien von Thommie Bayer sein neuer Roman Das Glück meiner Mutter im Piper Verlag, 22 €

Musikalischer Hörtipp
Aerosmith: Dream On

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden