Die Zurückgeworfenheit auf das verlassene Selbst

Einsamkeit Bärbel Schäfer schafft mit ihrem literarischen Sachbuch eine achtsame Beschreibung der verlassenen Seelen in der Spätmoderne

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Verloren in der Einsamkeit der Großstadt
Verloren in der Einsamkeit der Großstadt

Foto: Jewel Samad/AFP via Getty Images

Einsamkeit hat nichts mit Alleinsein zu tun. Vieles im Leben hat eine B-Seite, eine Metaebene. Nicht das was scheint ist relevant, sondern das was ist. Doch das was ist, ist nicht das, was gesagt wird, um der Haltung von Rudolf Augstein zu folgen: Schreiben, was ist. Was ist, ist derweil für viele Menschen final nicht greifbar, noch weniger beschreibbar. Sie wissen nicht, wann es begann, sie wissen nicht, wie es aufhören wird. Im Zweifel verschwinden sie in einem Strudel der eigenen Selbstverlassenheit bis zu einem Zustand, der den Tod in seiner Grausamkeit der grundsätzlichen Existenz überbietet: sie erleben es.
Aber ganz allein.

Die moderne Welt ist für das menschliche Individuum viel herausfordernder als man im allgemeinen Alltag sich einzugestehen vermag - oder: kann. Die Menschen fühlen sich an der Speerspitze der Entwicklung. Technologisch mag das stimmen. Der Mensch allerdings ist ins Hintertreffen seines Selbst gelangt. Das soziale Netz der Menschen hat sich in den Großstädten und auch Ballungsgebieten in eine undefinierte Optionalität zerfasert. Und dieses zerfaserte Netz bietet viel Potenzial zum Durchfallen. Das einzige Fallen, was oft erst bemerkt wird, ist das der Menschen, die schon viel zu lange gefallen sind: Die, die springen. Vom Dach, vor den Zug oder ins Wasser. Es ist der Endpunkt dessen, was seelische Verwahrlosung auslösen kann. Die eigene Auslöschung durch einen grausamen Exit. Niemand, wirklich absolut niemand, sollte sich in einer angeblich so zivilisierten, so gereiften Gesellschaft zu einer solchen Maßnahme gezwungen fühlen. Und doch, es passiert täglich. Zu oft, zu selten unbemerkt. Angehörige staunen, schauen weg oder gar nicht hin oder resignieren. Es ist ein Teufelskreis mit wahrhaft diabolischem Ausmaß. Die Menschen, die in ihrer Singularität an sich selbst ertrinken, schließen sich ohne Willen dazu aus ihrem eigenen Leben aus.
Die Frage der Schuld ist dabei völlig falsch.

Einsamkeit ist schuldlos

Es ist ein Weg des Schicksals. Die Attribuierung der Eigenverantwortlichkeit dabei auch nur ein neoliberalistischer Schachzug der Abweisung jedweder Verantwortung der Gemeinschaft von sich hin zu den verlassenen Subjekten. Doch die Gemeinschaft ist qua Existenz der Hort der Menschen. Ein Mensch ist ein Wesen der Gemeinschaft. Doch Dörfer, Zusammenhalt, wie hierarchisch er auch gewesen, wie viele Fallstricke er geboten und verlangt haben mag, war dennoch eine Matrix des Halts für die Menschen. In Großstädten und Ballungsgebieten geht dieser indes stets weiter zurück. Wer sich am Netz nicht aktiv festhält, wer nicht qua Schicksal ein dichtes Netz hat, was ihn hält, fällt durch. Fällt tief. Fällt vielleicht irgendwann in den Tod.
Menschen brauchen Interaktion, Wahrnehmung, Kommunikation.
Ein Leben als Eremit ist ein Narrativ der Unmöglichkeit.

Die Melange der sachlichen Erzählung

Bärbel Schäfer überzeugt seit Jahren immer wieder mit literarischen Sachbüchern. Sei es über den Unfalltod ihres Bruders oder die Treffen mit einer Überlebenden des Holocausts. Es ist ihr ein eigenes Genre gelungen, eine Melange aus Fakten und einer auf Tatsächlichkeiten beruhenden Fiktion zur Mitteilung wichtiger Lebensrealitäten.

Einsamkeit ist dabei ein Thema der Zeit, man könnte sagen, ein Modethema. Aber ist Mode nicht auch ein Spiegelbild der Notwendigkeiten der jeweiligen Zeit? Ja, eindeutig!
Und Einsamkeit ist ein grundlegendes Phänomen unserer Gesellschaft, dem viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das Thema Einsamkeit, es bleibt einsam seiner selbst wegen.

Kein einfacher, aber ein wichtiger Weg

Menschen in die Einsamkeit zu verlieren, bedeutet, den Zugang zu ihnen zu verlieren. Es besteht die Gefahr, den point of no return zu verpassen und Menschen an sich selbst und den ihnen gegebenen Umständen dahinsiechen zu sehen. Es gibt einen sehr eingängigen Merksatz der Psychotherapie: Vom Lesen einer Speisekarte, wurde noch niemand satt. Einsamkeit muss mit viel Fingerspitzengefühl und Verve entgegengetreten werden, die Abwehr der verschreckten, einsamen, überaus verletzlichen Menschen muss akzeptiert, verstanden und dann überwunden werden. Vertrauen zurückgewinnen, ist kein einfacher Weg.

Bärbel Schäfer reiht sich ein in die Riege der Veröffentlichungen dazu. Sei es Manfred Spitzers Einsamkeit - Die unbekannte Krankheit, Die Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz oder auch Allein von Daniel Schreiber. Sie ist damit nicht allein, und doch sind viele Menschen weiterhin einsam. Schreiend einsam, ohne laut zu sein. Einsamkeit ist ein kalter Mantel des gewordenen Seins. Es gilt auch dieses Buch über Einsamkeit als einen beständigen Weckruf zu sehen. Es ist wichtig, es ist richtig. Schäfer dekliniert den „Approach“ auf eine Einsame. Die Aura der Verlassenheit der Protagonistin entspringt Schäfers Zeilen klirrend. Dieses Abweisen jedweder Hilfe, diese Verhärtung aller Positivität gegenüber. Diese schreiende Resignation in vollkommener Stille. Und die Wiedergewinnung von Vertrauen, was als unrettbar galt.

Achten Sie auf Einsame. Auf Einsam-werdende. Auf Verlassene. Auf Verlassende. Auf Lächelnde wie auf Weinende. Auf Stille wie auf besonders Laute. Achten Sie. Achten Sie sie. Seien Sie achtsam. Bald ist Weihnachten. Das ist eine, wenn nicht gar die wichtigste Zeit für Achtsamkeit. Denn auch gemeinsam, kann jeder für sich sehr einsam sein. Denken Sie an die mögliche Tatsächlichkeit, nicht die attestierte Tatsächlichkeit. Nicht das Etikett der Empfindungen ist relevant, sondern die Empfindungen selbst.

Und bedenken Sie immer: So wie Schäfers Protagonistin Ava, kann jeden Menschen die Einsamkeit treffen.
--- Auch Sie.

Hinweis

Sind Sie einsam, depressiv und/oder haben Suizidgedanken?

Bitte kontaktieren Sie umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Sie erreichen diese unter den kostenlosen Telefonnummern 0800-1110111 oder 0800-1110222. Die dortigen Berater zeigen Ihnen Wege aus schwierigen Situationen auf und werden Ihnen helfen.

In lebensbedrohlichen Fällen oder im Zweifel, rufen Sie den Notruf unter 112 oder die Polizei unter 110. Dies gilt auch, wenn Sie vermuten, das andere Menschen sich in akuter Gefahr befinden. Auch wenn Menschen im Internet im Zweifelsfalle Lebensbedrohliches ankündigen, nutzen Sie umgehend den Notruf der Polizei unter 110.

Bärbel Schäfer: Avas Geheimnis. Erschienen im Kösel-Verlag. 20€
baerbel-schaefer.de

Artikelhinweis zur Einsamkeit an Weihnachten, Jan C. Behmann in Der Freitag Blog: Allein zu Haus (2018)

Weiterführende Literaturhinweise
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten
Manfred Spitzer: Einsamkeit - Die unbekannte Krankheit
Rebecca Böhme: Über das Unbehagen im Wohlstand
Daniel Schreiber: Allein
Ulrich Beck: Risikogesellschaft

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden