„Es ist trist“

Interview Wer von Berlin-Marzahn redet, kennt meist nur Klischees. Autorin Christiane Tramitz wollte mehr wissen und mietete sich ein
Ausgabe 29/2019

Fabian, Marie, Joana, Nela und Plattenhorst sind Romanfiguren, von der Autorin Christiane Tramitz anhand von wahren Geschichten erschaffen. In ihrem Buch Die Schwestern von Marzahn erzählt sie liebevoll von ihnen und ihrem mitunter kaputten Leben. Es ist auch die Geschichte einer Ehe, die am Tod des gemeinsamen Sohnes zerbricht, an der Arbeitslosigkeit – und der Unfähigkeit, miteinander zu sprechen. Einen Einstieg ins Marzahner Milieu erlaubten der Autorin die Frauen vom katholischen Orden der Missionsärztlichen Schwestern, die seit den 90ern Lebensberatung in Marzahn-Nord anbieten. Dieses Jahr feiert Europas einst größte Plattenbausiedlung 40. Geburtstag.

der Freitag: Frau Tramitz, es gibt haufenweise Marzahn-Klischees: Nazis, das Einkaufscenter Eastgate, Abwanderung – und Cindy aus Marzahn. Bedienen Sie jetzt ein weiteres?

Christiane Tramitz: Ich kannte all diese Klischees. Sie sind eine überspitzte Darstellung von realen Verhältnissen. Man wird immer ein Klischee bedienen, wenn man über harte Themen schreibt. Wenn Leser vermeintliche Klischees kritisieren, dann nur, weil sie sich mit dem Thema nicht auseinandergesetzt haben. Denn vieles ist kein Klischee, es ist Realität. Zum Beispiel habe ich mich im Eastgate aufgehalten und war erschüttert über die Verhältnisse dort.

Sie kommen aus Bayern. Warum wollten Sie sich einem Viertel wie Marzahn-Nord nähern?

Ich wohne zeitweise in Berlin. Meine Literaturagentin stellte den Kontakt zu den zwei katholischen Ordensschwestern her, die seit Anfang der 1990er Lebensberatung in Marzahn anbieten. Sie erzählten mir viele ihrer Erlebnisse aus Marzahn-Nord. Ich wollte mit meinem Buch einen kleinen Einblick in Lebenswelten gewähren, über die man im Alltag wenig erfährt. Wie geht es der Gesellschaftsschicht, die unten angekommen ist? Wir haben diesen gegenüber viele Vorteile und verurteilen sie, ohne wirkliche Kenntnis über deren Lebensverhältnisse zu haben.

Das Buch ist kein Roman?

Nein, es ist ein erzählendes Sachbuch. Ich möchte damit Leser ansprechen, die man mit einem normalen Sachbuch nie oder nur sehr schwer erreichen könnte. Aber nur eine Aneinanderreihung von Lebensgeschichten erschien mir nicht passend. Bei der Recherche stieß ich dann auf das Schicksal der beiden kleinen Schwestern, die allein in einer Wohnung in einem Plattenbau lebten.

Was geschieht dort?

Ich verwebe das Schicksal der bis auf die Ordensschwestern verfremdeten, aber realen Personen zu einer Entwicklungsgeschichte. Der einsam lebende Protagonist Krüger, Ende 50, lebt im elften Stock und fristet sein Leben als Hartz-IV-Empfänger. Früher war er Ingenieur mit Frau und Kind, dann brach mit der Wende und dem Tod seines Sohnes alles zusammen. Er hat, wie so viele, keine Perspektive. Ich lasse ihn auf die zwei kleinen, verwahrlosten Schwestern treffen und bringe ihn so in eine Rolle des Helfenden. Er erfährt wieder, was es heißt, eine Aufgabe zu haben und gemocht zu werden. Der zweite Handlungsstrang erläutert, wie Krüger überhaupt in diese Lebensmisere kam und welche Arbeit die Ordensschwestern in dem Stadtteil leisten.

War es leicht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen?

Nein, ohne die Ordensschwestern wäre es unmöglich gewesen. Die Menschen sind sehr verschlossen. Es brauchte immense Geduld.

Wie haben Sie recherchiert?

Ich wollte die Verhältnisse selber erleben und kein Porträt aus der Ferne schreiben. Drei Wochen habe ich in der Wohnung eines Freundes gewohnt und war dann etwa sechs Monate vor Ort.

Welche Realität haben Sie in Marzahn-Nord erlebt?

Es ist trist und die Armut deutlich sichtbar. Dort herrscht ein hoher Grad an jugendlicher Gewalt und Kinderarmut. Fremdenhass ist spürbar.

Und wie haben die Marzahner auf Ihr Buch reagiert?

Ich wurde als „Upperclass-Lady aus dem Westen“ teilweise scharf kritisiert. Es wurde auf die schönen Seiten von Marzahn verwiesen. Ich kenne sie, und es geht mir überhaupt nicht um Marzahn-Bashing, darum, den Stadtteil schlechtzumachen. Armut gibt es auch im Westen. Aber es kam eben zufällig das Buchprojekt über Marzahn-Nord zustande.

Woher kommt bei den Leuten ihr Stolz, der Lokalpatriotismus?

Sicherlich möchte man seinen Stadtteil nicht als Schandfleck diffamiert sehen. Das kann ich auch verstehen. Ich erzähle nur von meinen Erlebnissen aus Marzahn-Nord. Und ich glaube wirklich nicht, dass die Kritik von den Bewohnern dort kam.

Liberales Denken meint, man müsse sich einfach nur anstrengen, um von unten wieder hochzukommen. Ist das Unsinn?

Ja, denn insbesondere für die Menschen in Ostdeutschland galt, dass es nicht relevant war, wie gut sie gewesen waren, denn es gab schlichtweg die Jobs nicht mehr. Sie wurden nicht mehr gebraucht. Was soll man dann tun? Mein Protagonist Krüger ist fast 60. Ich denke, da resigniert man schneller als junge Menschen. Die Psyche macht nicht mehr mit und man verfällt in Depressionen, die den Absturz einleiten.

Reichen 404 Euro zum Leben?

Es reicht, um nicht zu verhungern. Die Qualität des Lebens ist aber so niedrig, dass die Hartz-IV-Empfänger zur Tafel gehen, um etwas von dem Geld in Lebensqualität investieren zu können. Sei es der Besuch im Schwimmbad oder ein Abend im Kino. Deshalb bin ich der Meinung, dass es eben nicht reicht. Man muss nicht nur physisch, sondern auch psychisch überleben. Ich sehe mit Sorge, wie Arm und Reich in Deutschland auseinanderdriften.

Zur Person

Christiane Tramitz, geboren 1959 in München, ist promovierte Psycholinguistin und arbeitete als Sprachtherapeutin. Daraus entstand 1991 ihr erstes Buch: Olaf – Kind ohne Sprache. Zuvor forschte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Humanethologie der Max-Planck Gesellschaft in Andechs. Weitere Bücher von ihr wurden Bestseller. 2001 erschien Unter Glatzen. Meine Begegnungen mit Skinheads. Tramitz lebt im Chiemgau

Was haben Sie grundlegend über Armut gelernt?

Mit Armut kann man umgehen, solange man einen Funken Hoffnung hat, ihr wieder zu entkommen. Sobald diese Hoffnung verloren geht, macht Armut krank.

Einer der Kumpel Ihres Protagonisten ist „Paule“, ein Nazi. Gibt es davon viele in Marzahn?

Die rechte Gesinnung spielt eine große Rolle dort. Eine Studie, die mir vorliegt, zeigt, dass dort bis zu 40 Prozent nach rechts tendieren. Ich habe das bei vielen Besuchen in einschlägigen Kneipen selber erlebt. Auch etliche NPD-Aufkleber waren zu sehen. Die Menschen, gegen die sich die Ausländerfeindlichkeit richtet, findet man dort dagegen kaum.

Woher kommt dann diese rechte Tendenz?

Es sind Vorurteile mangels Kontakt zu den angefeindeten Personengruppen. Der eigene Absturz bedingt die Notwendigkeit eines Sündenbocks. Als Hauptgrund vermute ich aber eine Art Protest gegen die bestehende Regierung. Die leeren Sprüche der Rechten passen den Menschen dann genau ins Bild, weil ihnen ein Ausweg suggeriert wird.

Gibt es einen Ausweg?

Diese Frage habe ich auch den Ordensschwestern gestellt. Sie glauben, dass Information und Aufklärung helfen können, dass die Verhältnisse nicht kippen. Einer meiner Gesprächspartner sah die Zukunft allerdings sehr düster. Er meinte, wenn es so weitergehe, herrsche bald Anarchie.

Riskieren Sie mit so einem rauen Thema eine niedrige Auflage?

Bei vielen meiner Themen gab es ein Absatzrisiko. Ob ich über die Biografien von rechtsextremen Gewaltverbrechern oder das Leben von Straßenkindern geschrieben habe – nichts diente einem harmonischen Lesevergnügen. Ich wähle die Themen aber nicht nach Verkaufschancen aus, sondern nach meinem Gefühl. Ich könnte natürlich seichte Krimis schreiben und würde sicher ordentlich Geld verdienen. Aber das langweilt mich.

Ob mit der Sennerin vom Geigelstein, Skinheads oder nun von Armut gezeichneten Menschen in Marzahn: Sie erkunden immer Grenzgebiete menschlichen Seins. Warum?

Mich interessieren die Lebenswege von Menschen sehr. Was war ausschlaggebend dafür, dass sie zu dem wurden, was sie sind? Wie meistern die Menschen ihr Leben, vor allem die Schicksalsschläge? Besonders die leisen Biografien finde ich spannend, also die von Leuten, die sonst übersehen oder ausgeblendet werden. Ich möchte verstehen, ohne zu verurteilen. Bei den rechtsextremen Gewaltverbrechern kam ich dabei allerdings an meine Grenzen.

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