"Die SPD hat den Löffel längst abgegeben"

Interview Der Vorsitzende Thomas Fischer verlässt den Bundesgerichtshof. Er beendete auch seine kontroverse Kolumne bei ZEIT Online. Rastlos und streitbar bleibt er

Dieser Text ist eine lange Version des Interviews "Noch kein Urteil" aus der Ausgabe 27/2017

Die Hitze steht über Baden-Baden, als Thomas Fischer mich in seinem Arbeitsbereich neben seinem Wohnhaus an einem malerischen Hang mit Blick auf die Stadt empfängt. Eine Woche zuvor sagte Fischer unseren Termin spontan ab. Thomas Fischer war der erste Richter, der sich einen Vorsitz am Bundesgerichtshof mittels Konkurrentenstreitverfahren erkämpfte. Mit seiner rekordvedächtigen Kolumne bei ZEIT Online zettelte er nicht nur um Fragen des Sexualstrafrechts hitzige Diskussionen an. So episch und assoziativ in seinen Kolumnen, so fomuliert er auch im Interview – und schweift dennoch nie wirklich ab. Zwischendrin serviert Fischer selbst Kaffee und Kuchen.

der Freitag: In unserem Vorgespräch sagten Sie, Sie kämen grad vom Supermarkt. Haben Sie getauscht: BGH-Vorsitz gegen Haushaltsvorsitz?

Thomas Fischer: Ich bin seit jeher ein ständiger Besucher von Supermärkten und Lebensmittelgeschäften, kaufe gern ein, koche gern und bin auch sonst im Haushalt tätig.

Bei wem bestehen Sie darauf, Sie mit Prof. anzusprechen?

Ich bin ja kein echter Professor, sondern nur ein Honorarprofessor. Nicht nur deshalb bestehe ich darauf überhaupt nicht. Höchstens im Ausnahmefall bei solchen Menschen, die ihrerseits darauf bestehen, dass ich sie so nenne.

Zu welcher Tageszeit arbeiten Sie?

In der Regel beginne ich um sieben Uhr morgens und höre in den letzten Jahren nicht mehr nach 20 Uhr auf.

Was zeichnet Ihren Arbeitsraum aus?

Die Nähe zu meinem Garten und die gleichzeitige Nähe und Entfernung zu meiner Wohnung. Und der Umstand, dass ich mir ihn so eingerichtet habe, wie es für meine Arbeitsbedürfnisse am besten ist. Er gefällt mir.

Reagieren die Menschen in der Öffentlichkeit auf Sie und wenn ja, in welcher Distanzlosigkeit?

In keiner Distanzlosigkeit. Ich erlebe gelegentlich, dass mich Menschen in der Öffentlichkeit erkennen, und sich dann irgendwie äußern.

Mit oder ohne Rechtsfragen?

Regelmäßig ohne Rechtsfragen. Das Erkennen ist in der Regel sehr freundlich und beschränkt sich auf das Anfertigen von Selfies oder die Bitte um Autogramme. Ich habe da keine schlechten Erfahrungen.

Sie sind wahrscheinlich der einzige Richter, der Autogramme gibt.

Ich kann das nicht beurteilen. Ich tue es jedenfalls.

Haben Sie eine abstrakte oder auch konkrete Bedrohung durch Ihr öffentliches Tun erlebt?

Ja.

Wie sah die aus?

Sage ich nicht. (Überlegt) Sagen wir es so: Ich habe in einer gewissen Weise zu gewissen Themen eine Vielzahl von ekelhaften, beleidigenden oder auch bedrohlichen E-Mails gekriegt, und darunter waren auch solche, die unangenehm waren. Mehr gibt es darüber nicht zu sagen.

Wie wurden Sie Herr der E-Mail-Fluten?

Durch das Betätigen der Löschtaste.

Der Soziologe Heinz Bude spricht von Dienstleistungsproletariat, der Sozialwissenschaftler Bernhard Heinzlmaier von der Abkopplung des untersten Gesellschaftsdrittels. Heutige Paketzusteller gehören durch Lohndumping, Akkordarbeit und Stückzahlvergütung dazu. Wie bewerten Sie ihren alten Beruf als Paketzusteller?

Die Arbeitsbedingungen der Paketzusteller haben sich in den vergangenen 40 Jahren massiv verschlechtert. Diese Entwicklung hat schon in den 70er Jahren begonnen, zunächst bei den privaten Anbietern. Ich selbst war Arbeiter bei der damaligen Bundespost, viele Kollegen waren damals auch noch im Beamtenverhältnis tätig. Ich kann mich erinnern, dass ich etwa 1.100 DM netto verdient habe.

Früher Paketzusteller, später Bundesrichter und Starkolumnist

Prof. Dr. Thomas Fischer wurde 1953 im nordrheinwestfälischen Werdohl geboren. Nach Schulabbruch, Versuchen als Musiker, nachgeholtem Abitur und Kommunenzeit arbeitete er als Paketzusteller bei der Post.

Fischer studierte in Würzburg Jura. Nach verschiedenen Stationen als Richter, in der Sächsischen Justizverwaltung und einem Zweitstudium der Soziologie wurde er 2000 in den Bundesgerichtshof gewählt. Als Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats am BGH wurde er der breiten Öffentlichkeit durch seine kontrovers diskutierten Kolumnen „Fischer im Recht“ auf Zeit Online bekannt. Fischer ging in diesen episch-assoziativ kreierten Ausführungen zu allgemeinen Rechtsfragen (etwa zum Sexualstrafrecht) keinem Streit aus dem Weg. Er ist unter anderem Autor seines als Standardwerk geltenden Kurzkommentars zum Strafgesetzbuch.

Im Frühjahr 2017 trat er als Richter nach 17 Jahren überraschend in den Vorruhestand und beendete, vielleicht nur vorerst, seine Kolumne bei Zeit Online, die zeitweise über eine Million Leser in der Woche hatte. Fischer ist Vater dreier Söhne und in dritter Ehe verheiratet. Er lebt in Baden-Baden.

Die negativen Folgen der Agenda 2010 stehen in ihrer Blüte, sagen Sie. Wie beurteilen Sie Schröders Leistung als Sozialdemokrat?

Ich habe nicht die geringste Veranlassung, irgendjemandes Leistung als Sozialdemokrat zu beurteilen oder die Leistung der Sozialdemokratie insgesamt. Diese politische Organisation hat ihren Löffel bereits vor langer Zeit abgegeben.

Wird der einzelne zu einem unternehmerischen Selbst?

Naja, er bildet es sich es jedenfalls ein, oder es wird ihm eingeredet, oder es bleibt ihm nichts Anderes übrig.

Arbeiter zum Freiwild erklärt

Welches davon ist die beste Lösung – unter den schlechten?

Die letzte. Es bleibt ihm nichts Anderes übrig. Das bedeutet, er hat die Chance, es anzunehmen oder nicht, es zu ändern oder nicht. Die Begrifflichkeit „Unternehmerisches Selbst“ ist ein reiner Euphemismus. Selbstverständlich wird nicht jeder Tagelöhner, weil man ihn zum Freiwild erklärt, zum Unternehmer, zur Ich-AG. Man kann zu jedem sagen: Du bist jetzt freischaffender Unternehmer, du hast keinerlei (Ab-)Sicherung mehr, keinerlei Garantien für dein Leben, und was morgen ist, weiß man heute nie. Das ist natürlich reine Ideologie. Die Welt besteht nicht aus einer unendlichen Vielzahl mächtiger Einzelunternehmern, sondern aus immer weniger mächtigen Unternehmen und immer mehr ohnmächtigen Einzelnen.

Warum haben Sie auch Soziologie studiert?

Weil es mich schon immer interessiert hat und ein extrem interessantes Fach ist. Es bietet Zugang zu Methoden, soziale Wirklichkeit objektiv zu erkennen und zu beurteilen.

Ein russisches Sprichwort sagt, eine Krawatte sei ein Reisepass für Arschlöcher. Die Krawatte haben Sie als Richter a.D. abgelegt, aber das Hemd ist oft bis oben hin zu: Ein Ausdruck Ihrer Reserviertheit?

Nein. Das ist Zufall.

Wenn Sie Ihr Radio einschalten, was hören wir?

Deutschlandfunk oder Deutschlandfunk Kultur.

Sie sprechen in einer Kolumne von Bionade-Redaktionen, Giovanni di Lorenzo beschreibt 2014 seine Redaktion als zu homogen, bestehend aus zartfühlenden Wesen des rot-grünen Milieus. Sind Ihnen die Redaktionen zu weich?

Nein, mit weich und hart oder Bionade und Coca-Cola hat das nichts zu tun.

Warum schreiben Sie es dann?

Ich weiß gar nicht, dass ich das jemals geschrieben haben könnte, will es aber natürlich nicht ausschließen. Die Redaktionen sind nicht zu weich, sie sind entweder gut oder schlecht, kompetent oder inkompetent, selbstbeweihräuchernd oder selbsterfüllend oder offen. Es gibt qualitative Ansprüche in Redaktionen und Qualitätsmerkmale, und die sind von der Frage des Inhalts nicht wirklich abhängig.

Lesen Sie den Freitag?

Nein.

Welche Zeitungen lesen Sie dann?

Ich lese jeden Morgen die Süddeutsche Zeitung, sonntags die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und jede Woche die halbe ZEIT und sonst nichts Nicht-juristisches. Für den ganzen Text der ZEIT jede Woche fehlt einfach die Zeit.

Lesen Sie Print oder Digital?

Print. Ich lese außerdem noch ungefähr zwanzig Fachzeitschriften und einen Haufen anderes Zeug und sämtliche BGH-Entscheidungen. Aber das spielt hier keine Rolle.

Ist Siegmund Gottlieb, der vor kurzem pensionierte BR-Chefredakteur, ein komischer Kauz?

Nein, nein. Herrn Gottlieb habe ich zuletzt vor ein paar Monaten getroffen in Berlin. Ich habe ihn mal als „Gott des Heißluftföns“ oder als „schönste Fönfrisur seit Siegfried und Roy“ bezeichnet, aber solche Gags sind natürlich nichts Persönliches. Ich habe nichts gegen Herrn Gottlieb persönlich. Er ist ein meinungsstarker Mensch. Was mich immer etwas gestört hat war, dass er auch dann eine Meinung vortäuscht, wenn er gar keine hat.

Ist er somit meinungs- und/oder ahnungsstark?

Die Differenzierung will ich jetzt nicht so nachvollziehen. Er ist jetzt pensioniert, und damit soll´s dann auch gut sein. Er hat mich in einer Vielzahl von Fällen stark genervt.

Er konstatiert im Gespräch mit Gerhard Schröder, die Welt sei elf Jahre nach dessen Kanzlerschaft aus den Fugen geraten.

Das ist belanglos. Das sind nur Floskeln, die nichts bedeuten und nichts verursachen sollen.

Warum suggeriert man damit Menschen, es würde wirklich schlimmer werden?

Naja, das sind halt Stimmungen. Die Medienwelt, insbesondere diese Fernsehwelt, lebt in hohem Maße davon, Stimmungen zu simulieren und hieraus wieder Stimmungen zu generieren. Man muss nur zwei Tage hintereinander Nachrichtensendungen auf mehreren Kanälen verfolgen und vergleichen, dann weiß man, dass der Anteil an relevanten Informationen außerordentlich gering ist und eine unglaubliche Menge von Stimmungen und Zuständen durch Gestik, Darstellung, Wortwahl einfach nur simuliert wird. Dadurch entsteht eine Wirklichkeit eigener Art, die dann wiederum Reaktionen des Publikums erzeugt, auf die dann wieder geantwortet wird, als ob dadurch bewiesen sei, dass genau das erforderlich ist, was man vorher suggeriert hat. Das ist eine schreckliches Ping-Pong-Spiel, das aber von den Machern dieser Medien im hohen Maße durschaut und gerade deshalb gemacht wird.

Ahnungslose Talkgäste

Wieso enttarnen sich Talkgäste häufig als hilflos und ahnungslos?

Wir leben heute mit Wirklichkeiten, die sich immerfort ständig neu als extrem aktuell und ganz neu beweisen oder behaupten müssen. Inhaltlich hat das keinen Background und ist inkompetent. Der einzelne Talkshowgast hat mit der Medienwirklichkeit nichts zu tun. Er ist ein Objekt dieser Medienwirklichkeit, wird benutzt, vorgeführt - wie viele jede Woche.

Brauchen wir noch Talkrunden?

Das ist eine gute Frage! Die bloße Kritik an der medialen Darstellung der Wirklichkeit ist die eine Seite, die andere ist, dass man sich fragt, was die Alternative sein soll. Wir leben in einer Zeit, in der es mehrere Antworten darauf gibt. Es gibt z.B. die Antwort der sogenannten Populisten – ein sehr merkwürdiges Schimpfwort übrigens, dessen Berechtigung ich teilweise bestreite. In Form von AfD oder Pegida, die sagen, man muss nur die angeblich wahre Meinung des Volks, das Stammtischgerülpse und Geschrei nach vorne bringen, dann wird die Wahrheit sich enthüllen. Man müsse nur allen zu jeder Zeit gestatten, alles zu sagen. Das ist auch die Ideologie des Internets, in der behauptet wird, man brauche Eliten nicht mehr, wir brauchten keinen mehr, der die Wirklichkeit strukturiert, steuert und vordenkt, sondern wir sollten alles herausschwätzen, und aus dem Durchschnitt der allesamt gleichberechtigten Äußerungen entstehe die wahre Demokratie. Das stimmt, wie man immer mehr erkennt, vermutlich eher nicht. Auch da kommt es darauf an, qualitative Strukturen zu setzen und zu steuern. Wie das geschehen soll, ist eine sehr komplizierte Frage. Sie muss auf der einen Seite diese Mechanismen durchschauen und darf auf der anderen Seite sich nicht als Zensurbehörde, nicht als inhaltliche Qualitätssicherungsanstalt aufführen, wie es die Massenmedien der alten Kultur (Fernsehen, Rundfunk) vielfach getan haben.

Meine eigene Behörde ist Feindesland, sagt Fritz Bauer in "Der Staat gegen Fritz Bauer": War das für Sie am Ende Ihrer BGH-Tätigkeit auch so?

Die Frage ist insoweit etwas schief, da es nur wenig Grund oder Anlass gibt, aus dem ich mich mit der Position von Fritz Bauer vergleichen sollte. Es unterstellt eine inhaltliche Stellung, an der ich mich nicht messen will.

Waren Sie zum Schluss unbeliebt im Senat oder der Cafeteria?

Das ist nun das andere Extrem: Unbeliebt sind viele, sowohl im Senat als auch in der Cafeteria. Und das sind weiß Gott nicht nur Menschen, die sich öffentlich äußern oder Kritik üben. Unbeliebtheit oder Beliebtheit ist keine Kategorie, in der man denken oder Interviews geben sollte.

Das warme Gefühl der Gemeinsamkeit

Mobbing macht krank.

Ja. Das ist aber letztlich eine sekundäre Frage. Ich bin innerhalb des BGH auf vielfältige Kritik gestoßen, die überwiegend in merkwürdig persönlicher Weise formuliert wurde. Erstaunlich und bezeichnend: Vielfach wurde diese Kritik gerade auch von Menschen getragen und in skurriler Weise „gelebt“, mit denen ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesprochen und die mich niemals irgendetwas gefragt haben. Es reicht solchen Menschen aus, wenn jemand, der ihnen als „wichtig“ gilt, berichtet, jemand anderes habe gesagt, dass eine dritte Person nichts tauge. Da geht es nicht um die Sache, sondern nur um das warme Gefühl der Gemeinsamkeit.

Aber das ist ganz normal, oder sagen wir: erwartbar. Jeder, der in einer solchen hermetischen Organisation sachliche Kritik an Strukturen statt an Personen übt, wird immer wieder als rein persönlich motiviert dargestellt und denunziert. Jede Kritik, die schmerzhaft ist, wird als persönliche Wichtigtuerei, jede Reaktion, die auf Ausgrenzung erfolgt, als schwächliches Beleidigtsein dargestellt: Wenn man sich nicht wehrt, ist man ein Schwächling oder überführt. Wenn man sich wehrt, ist man ein Rechthaber. Es geht aus Sicht der Mehrheit in einer solchen Krise angeblich niemals um die Sache. Sondern die Organisation versucht immer, die Diskussion um die Sache zu vermeiden und auf die Person zu konzentrieren. Diese Person ist ein Außenseiter, ein Wichtigtuer, ein Nestbeschmutzer. Selbst wenn es so wäre, würde das ja an der Sachkritik gar nichts ändern. All das ist ja tausendmal analysiert und beschrieben worden. Beim BGH gibt es wahrscheinlich mehr Menschen mit Großem Latinum und Geigenunterricht als in der Durchschnittsbevölkerung, aber keinesfalls mehr souveräne Menschen, eigenständige Charaktere oder mutige Geister.

Man kann das eine Weile mehr oder weniger gut aushalten, je nach persönlicher Konstitution. Das spielt aber letzten Endes keine Rolle. Es geht mir insoweit auch keineswegs darum, dass ich Recht und andere Unrecht haben sollen. Dass jede Person über Schwächen und Fehler verfügt, ist klar. Es geht nicht um die Gegenüberstellung von strahlenden Helden und einem dunklen Reich des Schattens und der Bedrückung. Es geht um substantielle, inhaltliche, möglicherweise schmerzhafte Kritik an einer verfestigten Struktur, die so auf ihr pures Funktionieren konzentriert ist wie beispielsweise der BGH in Strafsachen. Darauf wird immer mit einem Maximum an Repression, Ausgrenzung oder Zurückweisung reagiert. Das Problem solcher Strukturen ist ja gerade, dass nicht die Sache diskutiert wird, sondern die angebliche Unerhörtheit, sie als fragwürdig und diskussionsbedürftig darzustellen. Das ist ein Risiko, das man einkalkulieren muss und das ich bewusst auf mich genommen habe.

Ein eklatantes Beispiel dafür ist meine anhaltende Kritik an der durch pure Überlastung und Konfliktscheu verursachten Entscheidungskultur des so genannten „Vier-Augen-Prinzips“, was ja nur eine absurde Verniedlichung des Vorgangs ist, dass die Mehrheit derjenigen, die über die Rechtsmäßigkeit eines Urteilstextes entscheiden, diesen Text in 90 Prozent der Fälle gar nicht liest – einfach weil man sonst die Arbeit nicht schafft und es deshalb für legitim hält. Wenn man das öffentlich und nicht nur wie üblich beim Kaffeetrinken tut, wird man von Wichtigheimern und Kollegialitäts-Feierern im Innern und von ahnungslosen Verlautbarungs-Journalisten als „umstrittener Außenseiter“ dargestellt.

Sie konnten im Gericht nicht so gut arbeiten. Sagt das mehr über Sie oder das Gericht aus?

Weder noch. Das ist einfach nur eine Frage des Vergleichs gerichtlicher Arbeitszimmer zu meinem häuslichen Arbeitszimmer. Mit "im Gericht arbeiten" ist nur die räumliche und sachliche Umgebung gemeint.

Warum ist auf Ihrer Website Ihre Position als Vorsitz des 2. Strafsenats mit zwei Quellenangaben hinterlegt?

Die Quellen beziehen sich auf zwei Urteile des Verwaltungsgerichts Karlsruhe, die auf das relativ öffentlichkeitswirksame erste erfolgreiche Konkurrentenstreitverfahren am BGH verweisen.

Was andere nun nachmachen.

Ob Nachmachen oder nicht: Jeder Bürger in unserem Staat – Richter sind ja auch ihrerseits Bürger und Grundrechtsträger – hat das Recht, sich gegen Entscheidungen der Obrigkeit zu wehren, die er oder sie für rechtswidrig hält. Wenn jemand den Eindruck hat, bei Beförderungen oder Ausschreibungen aus rein persönlichen Gründen benachteiligt, übervorteilt oder rechtswidrig behandelt und zurückgesetzt zu werden, muss er die Möglichkeit haben, sich dagegen zu wehren. Ob man das ständig in Anspruch nimmt, wie bei Nachbarschaftsstreitigkeiten, ist Geschmackssache. Dass man meinte und durchzusetzen versuchte, beim BGH, dem obersten Gerichtshof der Bundesrepublik, dürfe das aus kosmetischen Gründen nicht sein, weil dadurch das so genannte „Ansehen des Gerichts“ leiden könne, war natürlich eine alberne Vorstellung. Bei allen anderen obersten Bundesgerichten sind Konkurrentenstreitigkeiten übrigens seit vielen Jahren durchgeführt worden. Dafür sind die Verwaltungsgerichte ja da. Ich habe mich gegen zwei offenkundig rechtwidrige, willkürliche Beurteilungen gewehrt und habe in beiden Verfahren gewonnen. Damit ist die Sache dann auch erledigt. Erstaunlicherweise hat das offenbar einen Bann gebrochen, so dass andere Kollegen von diesem selbstverständlichen Recht nun auch Gebrauch machen.

Was ist die Person Fischer ohne die Funktion?

Das ist eine letztlich komplizierte Frage. Was ist die Funktion des Interviewers, ohne dass er Journalist ist? Was ist die Funktion von Beckenbauer, ohne dass er Fußballer ist? Ich weiß es nicht. Das sind doch zwei verschiedene Dinge, die sich in einer Weise ergänzen, die nur schwer voneinander zu trennen ist.

Das Innehaben von Macht fällt weg, wenn die Funktion endet. Wenn die Person sich darauf beschränken würde, Macht zu haben, dann wäre das traurig. Viele Menschen erleben das subjektiv, die ihre Macht verlieren und nur noch aus dem Off reden können: Politiker, Anwälte, Chefredakteure, Unternehmensvorstände. Wer sich damit noch nicht beschäftigt hat, kann einem leidtun. Es gibt Menschen, die darunter sehr leiden und nicht wissen, was sie tun sollen. Letztlich ist das eine sehr alberne Sichtweise auf sich selbst und die Welt. Denn die Dinge und Bedeutungen sind vergänglich, und Privilegien hängen mit der Funktion zusammen, das ist klar. Man muss sich rechtzeitig damit beschäftigen.

Man kann andererseits nicht von sich selbst abstrahieren: Ich bin der, der ich bin, aber ich bin dies auch ohne alles, was ich in der Welt bin. Das geht nicht. Das wäre eine sehr starke und ein bisschen lächerliche Vereinfachung. Man muss mit beidem gleichzeitig zurechtkommen und eine Verbindung schaffen zwischen der substantiellen Persönlichkeit und den Erfahrungen, also mit dem, was man in der Außenwelt erreicht, angestrebt, erreicht und auch nicht erreicht hat, wie man kritisiert wurde. Das ist eine Aufgabe, die sich jedem Menschen stellt.

Für ungeeignet erklärt

Was ist die Position des Vorsitzenden des 2. Strafsenats ohne die Person?

Man braucht eine neue Person Richter. Richter sind Menschen und keine Rechtsproduktionsautomaten. Menschen, die aufgrund der Kenntnisnahme und Bewertung von sogenannten Sachverhalten, also Tatsachen, entscheiden. Jetzt wissen wir, dass die Informationsaufnahme von Tatsachen in höchstem Maße subjektiv erfolgt und gefiltert ist. Es ist eine frappierende Erfahrung, die jeder Mensch kennt: Fandst du das Erlebnis auch so schrecklich? und der andere antwortet: ich fand das super toll - oder umgekehrt. Die Menschen sind verschieden, Aufnahme und Verständnis von Tatsachen sind verschieden. Mancher findet ein Handspiel im Elfmeterraum offenkundig, und mancher kann es auch bei der siebten Superzeitlupe nicht erkennen.

Irgendjemand wird meine Nachfolge antreten und wird den Job ganz gewiss anders machen als ich, wird ihn aber auch anders machen als alle meine Vorgänger. Die Position des Vorsitzenden wird in der Öffentlichkeit weit überschätzt und hat aus sich selbst heraus keineswegs die Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird und die sich die Personen notorisch selbst zuschreiben, um sich wichtig zu machen. Wie die Rechtsprechung eines Senats inhaltlich läuft und strukturiert wird, hängt vom Vorsitz, aber in hohen Maß auch von den Personen der anderen Richter und ihrer Fähigkeit zur offenen Zusammenarbeit ab. Da auf dem Karriereweg zum BGH das Letztere meist völlig unerheblich ist, kommt heraus, was herauskommt.

Der frühere Präsident des BGH (Anm. d. Red.: Klaus Tolksdorf) hat mich für ungeeignet erklärt, weil ich angeblich „zu dominant“ sei. Als ich dann Senatsvorsitzender war, warfen mir senatsinterne Gegner immerzu nur vor, zu wenig dominant zu sein. Als ich eine Terminierung von Beschlussentscheidungen einführen wollte, wurde dies als unerhört und keinesfalls praktikabel abgelehnt. Kaum war ich pensioniert, wurde es eingeführt. Das ist nur ein kleines Beispiel.

Beschreiben Sie mir bitte Ihren Abschied in Karlsruhe. Hatten Sie eine Pappkiste dabei?

Ich habe einige Bilder und Motorrad-Modelle aus meinem Dienstzimmer abgeholt. Der Abschied war gänzlich unspektakulär.

Ich zitiere Sie: Bei vielen Menschen führt eine solche Position zu schrecklichem Phantomschmerz nach der Pensionierung. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen werde, ich habe noch drei Jahre Zeit. Wie geht es Ihren Schmerzen?

Ich bin mit allem ganz zufrieden.

Wider Erwarten?

Nein, ich habe schon immer gedacht, dass es gut gehen wird.

Wieso haben Sie früher aufgehört?

Jeder öffentlich Bedienstete hat die Möglichkeit, entweder bis zum 65. bzw. 67. Lebensjahr zu arbeiten oder zwei Jahre früher zu gehen, wenn er dafür Abstriche an seiner Pension in Kauf nimmt. Nun habe ich mit 64 aufgehört. Ich hatte den Eindruck, dass es reicht. Die konkreten Gründe dafür gehen nur mich persönlich, meine Familie und Freunde an.

Hat man den Terminus "Hobby" erfunden für Menschen, die ihr Geld mit etwas verdienen, das sie hassen?

Irgendwas muss der Mensch immer tun. Immer nur schlafen ist keine Alternative. „Hobby“ ist ja auch dieser ganze wahnwitzige Bereich, angebliche Inhalte rein formal zu betrachten. Die Liebe zur Musik, die sich in einer unendlichen Faszination von Verstärkergeneration erschöpft. Wie bei der Fotografie, dem Auto- und Motorradfahren auch. Es sind Symbole des Versuchs, das Leben mit Sinn zu füllen, in einer Umgebung, die bestimmte Sinnstrukturen vorgibt und sagt, Konsum, Aktivität und Vorwärtsgerichtetheit seien gut, ganz schlecht hingegen sei es, nichts anzustreben, keinen Erfolg haben zu wollen. Und das Allerschlechteste sei, nichts anzustreben, was mich über andere herausheben könne. Das gilt als Versagen oder als Kennzeichen des Lebensendes. Ich halte beides halte ich für falsch und absurd.

Wie sehr liebt Sie Ihr Mercedes-Händler?

Ich habe einige Mercedesse gefahren.

Muss es wirklich sein?

Man muss auch gnädig mit sich selbst sein. Man darf das aber nicht überschätzen. An diesen Dingen hängen nicht das Glück oder das Selbst.

Was lesen Sie privat?

Ich lese alles unprivat – oder privat. Ich lese relativ viel. Natürlich gibt es Sachen, die ich nicht lesen würde, wenn ich nicht müsste. Kommentierung von schrecklichen Langweils-Gesetzen würde ich nicht lesen, weil mir nichts Besseres einfällt.

Aus dem trockenen Kosmos der Jurisprudenz hat Ferdinand von Schirach etwas geschafft, wovon Sie schon seit frühen Tagen träumen: ein erfolgreicher Schriftsteller zu sein. Wurmt Sie das?

Weder stimmt das eine, noch das andere, noch wurmt es mich. Schirach ist ein wirtschaftlich erfolgreicher Schriftsteller. Das ist kein qualitatives Argument. Mein Traum ist nicht, Leitkolumnist der BILD-Zeitung zu sein.

Sie wollten aber Schriftsteller zu werden.

Das hat nichts miteinander zu tun. Der Begriff „erfolgreicher Schriftsteller“ ist nur eine Metapher für eine berufsmäßige Ausführung des Schreibens und die Anerkennung einer gewissen Anzahl von Menschen dafür. Diese Formulierung wurde aus der Perspektive meiner frühen Jahre getroffen. Damals war „erfolgreich“ in keiner Hinsicht damit verbunden, eine Millionenauflage mit populären Krimigeschichten zu erzielen. Es war nur der Traum eines 22-jährigen Germanistikstunden, der dachte, es wäre schön, wenn ein paar Leute seine Gedichte lesen.

Wichtiger als die Kolumnen

Ihre Kolumnen sind bereits nach einem Jahr als Hardcover verlegt worden. Peter Handke besteht darauf, das fertige Buch vor allen anderen Menschen in der Hand zu haben. Beschreiben Sie mir bitte den Moment, als Schriftsteller F. das erste Exemplar in der Hand hielt.

Ich habe eine relativ lange Geschichte von Veröffentlichungen. Es gibt da ehrlich gesagt Veröffentlichungen, die mir wichtiger waren als die gesammelten ZEIT-Kolumnen.

Ihr Kommentar zum StGB.

Der vor allen Dingen, aber auch andere Kommentare. Ich bin seit 25 Jahren publizistisch tätig. Seit 17 Jahren habe ich jährlich im Dezember die jeweils neueste Auflage meines StGB-Kommentars in der Hand. Da war der Moment mit dem Kolumnenbuch nicht der Höhepunkt meines Lebens. Aber es ist immer erfreulich und schön, wenn man mit einer Arbeit fertig ist, und wenn der Text so dasteht, dass man ihn noch einmal lesen und denken kann, man hätte es eigentlich auch besser machen können.

Bei welcher Kolumne lagen Sie einmal richtig falsch?

Weiß ich nicht. Spontan würde ich sagen: bei keiner. Ob es inhaltlich etwas gibt, was ich heute anders schreiben würde, weiß ich nicht. Es sind insgesamt deutlich mehr als 1000 Normseiten Text mit weit mehr als 3,2 Millionen Zeichen, da habe ich nicht mehr alles im Sinn.

Teils mehr als eine Millionen Leser klickten pro Kolumne. Leider wird nicht nach Klicks vergütet, oder?

Ich habe mich darum auch nicht beworben.

Alle dachten, die Kolumne geht jetzt erst recht weiter. Warum ist Schluss?

Die Verbindung zwischen dem Ende meiner Richtertätigkeit und dem Ende meiner Kolumne ist eher zufällig. Ich hatte den Eindruck, dass die Kolumne an einem Punkt angelangt ist, an dem man sagt, man macht mal einen Cut oder eine Pause. Die Kolumne hatte eine Form, die es vorher so nicht gab und sich in zweieinhalb Jahren entwickelte. Den typischen "Fischer-im-Recht“-Sound muss man auch nicht so lang weitertreiben, bis die Leute sagen: früher war es mal besser, oder: der lässt nach. Ich will jetzt mal ein halbes Jahr Pause haben. Danach wird man sehen.

Was hat Sabine Rückert (DIE ZEIT) am häufigsten in Ihren Kolumnen redigiert?

Naja, gewisse Überlängen. Quantitative Überlängen. Oder Redundanzen. Oder Absätze, die thematisch zu weit weg führten.

Wie kommt man dazu, einen Strafrechtskommentar zu schreiben und wer adelt den dann zum Standard?

Ich weiß nicht, woher der Begriff Standard-Kommentar kommt. Es gibt über 15 regelmäßig erscheinende Kommentare zum StGB. Der Kommentar hat eine Sonderstellung, da er der am weiten verbreitetste ist, er hat eine höhere Auflage als alle anderen Kommentare zusammen, er ist in den meisten Bundesländern einzig zugelassenes Hilfsmittel in der juristischen Staatsprüfung. Er ist meines Wissens auch der einzige Kommentar des gesamten Strafgesetzbuchs, der von einer Einzelperson erstellt wird.

Sie sprechen dabei gerne von einem Ein-Mann-Unternehmen. Funktionieren Sie besser allein als im Team?

Es kommt darauf an. Was den Kommentar betrifft, ist es ein Markenzeichen, dass er aus einem Guss ist und damit alles zusammenpasst. Mein Kommentar wird nicht, wie viele andere, in kleinen Häppchen und selbst da noch von einer großen Schar von Assistenten zusammengeschrieben. Das hat Nachteile, aber auch viele Vorteile. Jedenfalls ist es bei mir so, dass der Autor alles liest, schreibt und – wenn er Glück hat – versteht.

Warum ist Mäßigung im Amt des Richters in der allgemeinen Definition das Schweigen?

Schwierige Frage. Es gibt gute Gründe dafür, gute Gründe dagegen. Mäßigung ist natürlich ein Begriff, eher eine Haltung, die mit Schweigen wenig zu tun hat, die aber in der praktischen Lebenswirklichkeit häufig so verstanden und ausgelegt wird: Als ob man keine Meinung haben dürfe oder diese allenfalls anzudeuten sei. Richter, die schweigen, haben aber nicht weniger Meinung als Richter, die nicht schweigen. Sondern gerade bei den Schweigenden sind Meinungen und Voreingenommenheiten oft besonders hoch ausgeprägt. Insoweit hat es ein gewisses absurdes Element, dass jemandem, der seine Meinung sagt und sich der Diskussion stellt, vorgeworfen wird, er lasse es an der nötigen Mäßigung fehlen. Das kann man nur vor dem Hintergrund eines fetischisierten Begriffs von richterlicher „Mäßigung“ verstehen, der nicht stimmt und auch nur aus der Lebenswirklichkeit der Justizorganisation und der öffentlichen Verwaltung insgesamt erklärt werden kann.

Das gilt aber gleichermaßen auch für große bürokratische Organisationen in der Privatwirtschaft. Auch dort finden Sie die Ideologie, dass man sich zurückhalten, nicht vorpreschen soll, und die besondere Vorstellungsweise, dass Richter sich in jeder Weise von der Lebenswirklichkeit zurückziehen und dadurch bei der Bevölkerung den Eindruck erwecken sollen, sie seien im besonderen Maße unabhängig und von den Leidenschaften des täglichen Lebens ausgenommen und auf eine gewisse Weise meinungslos. Meinungslosigkeit gibt es aber nicht, und eigentlich weiß jeder denkende Mensch, dass es keine meinungslosen und vollkommen „neutralen“ Richter gibt.

Zygmunt Bauman konstatierte, Politiker seien nur wählbar, weil sie suggerierten, Lösungen auf eigentlich unlösbare Probleme zu haben. Gilt das auch für Juristen und ihr Recht?

Nein. Erstens ist das eine sehr deprimierte und deprimierende und deshalb teilweise nichtzutreffende Charakterisierung von Politikern in der Demokratie. Für die Justiz gilt es deshalb nicht, weil Richter nicht suggerieren, unlösbare Probleme zu lösen, sondern weil das Rechtssystem insgesamt suggeriert, dass es für die Probleme unserer Gesellschaft Lösungen gibt, die man finden kann und muss.

Man verrennt sich auch

Heinrich von Kleist lässt seinen Protagonisten Kohlhaas nach der Devise handeln: Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zu grunde! Auch Ihnen wirft man vor, bisweilen selbstgerecht zu sein und in den rechthaberischen Fanatismus zu tendieren. Was entgegnen Sie?

Das ist ein Missverständnis des Kohlhaas-Stückes und hat mit mir nichts zu tun. Rechthaberisch zu sein hat nichts mit der Haltung „… sic pereat mundus“ zu tun. Ich kenne wenige Menschen, denen das Merkmal der Rechthaberei nicht zueigen ist, wenn sie denn meinen, Recht zu haben. Wie der Name schon sagt, ist das ein subjektives Empfinden. Ich glaube nicht, dass ich besonders rechthaberisch bin, aber will das auch nicht ausschließen. Man macht auch Fehler, verrennt sich in etwas.

Das Bild von Michael Kohlhaas ist aber eine eher diskriminierend verwendete Metapher. Journalisten fällt oft nichts Besseres ein, wenn jemand Rechtspositionen vertritt, die nicht sogleich erfolgversprechend erscheinen. Er wird dann als „umstritten“ bezeichnet. Dieselben Journalisten streiten dann bis zum Bundesverfassungsgericht, wenn ihnen jemand einmal angeblich auf die Zehen ihrer höchstpersönlichen Pressefreiheit getreten hat, und schreiben gleich ein Buch darüber. Ich glaube jedenfalls nicht, dass ich mich im Kohlhaas’schen Sinn als Vollstrecker von Selbstjustiz und Gewalttätigkeit gegen die Obrigkeit hervorgetan habe.

Wie beurteilen Sie den Fall des Footballspielers O.J. Simpson, der des Mordes an seiner Exfrau angeklagt, dann freigelassen wurde?

Ich kenne den Fall nur über die Medien. Dahinter steckt natürlich die Frage: Wie viel Gerechtigkeit und Legitimität produziert ein System wie das der US-amerikanischen Jury-Prozesse, das die Legitimation von strafgerichtlichen Entscheidungen vollständig auf den Glauben an Demokratie setzt? Ein Glauben, den wir in Europa nicht haben. Bei uns dominiert ja die Vorstellung eines Beamtenrichters: einer qualifizierten, wissenschaftlich gebildeten Fachgerichtsbarkeit, die sich in hohem Maße neutral mit den Dingen beschäftigt. Wenn in den USA Fälle vor der Grand Jury, der Schwurgerichtsbarkeit zu verhandeln sind, dominiert das Prinzip der Demokratie, d.h. eine Legitimation des Rechts, die sich daraus ergibt, dass der Durchschnittsmensch als Repräsentant einer Gesamtheit entscheidet, und zwar ohne Begründung. Die Jury gibt keine Begründung, sie sagt schuldig oder nicht schuldig. Das ist im Einzelfall eine Provokation.

Welche Felder der Justiz sind für Sie böhmische Dörfer?

Viele Zivil- oder Verwaltungsrechtsfragen. Zumindest nicht mehr als man hat, wenn man das Zweite Staatsexamen besitzt. Zu solchen Bereichen äußere ich mich auch nicht.

Hat Justitia ein Geschlecht?

Metaphorisch als Gestalt natürlich schon, aber das ist mir nicht bedeutend. Wenn man die Frage etwas aktualisiert und aus dem Zusammenhang löst, wird beklagt, die Justiz würde sich feminisieren, weil heutzutage 60% der eingestellten Richter weiblich sind. Das könnte aus vielerlei Gründen zu einer Schwächung der Justiz führen. Justiz war früher eine männlich dominierte Berufssphäre. Richter waren Männer mit Reputation, Ansehen und einem passablen Auskommen. Heute ist die Besoldung mittelmäßig bis mies. Mit einer R1-Stelle (Richter am Amtsgericht) kann man kaum nicht allein eine Familie mit drei Kindern ernähren und ein Haus bauen. Es geht nur noch, wenn beide arbeiten. Ich meine diese Kritik nicht gesellschaftspolitisch. Sie hat insoweit nichts mit Geschlechterrollen zu tun. Es bedeutet nur, dass Richter und Richterinnen heute nicht mehr als sozial herausgehobene Personen behandelt und wahrgenommen werden und mitnichten zu einer „Elite“ zählen, sondern als eine Art Verwaltungs-Dienstleister angesehen werden, die gefälligst reibungslos ihre Akten abarbeiten sollen.

Die Redewendung "Wie kann so etwas sein?" würde bedeuten, es hätte einen Zustand des Nichtvorhandenseins gegeben, oder?

Nein, es ist nur eine sinnlose Floskel, die Bezug nimmt auf eine Vorstellung von Gerechtigkeit, angeblich wahrem Recht, das jenseits des angeblich gesetzlich vorgeschriebenen und im jeweiligen Einzelfall von dem jeweiligen Sprecher als ungerecht empfundenen liegt.

Aktuell haben die Johanniter in Frankfurt mit einem Skandal zu tun. Es wird Mitarbeitern vorgeworfen, hilflose Patienten in ehrabschneidenden Posen fotografiert und das in einer Whats App-Gruppe geteilt zu haben. Wie beurteilen Sie die Genese solcher Abgründe menschlichen Handelnsoder gibt es gar keine Abgründe?

Ich kenne den Fall nicht. In gewisser Weise spiegelt so etwas einen Normalzustand menschlicher Abgestumpftheit oder Sensationslust wieder. In anderer Weise steht dahinter die außerordentliche Veränderung der kommunikativen Strukturen durch das Internet, die das ermöglicht, was bekanntlich zu einer deutlichen Reduzierung der Schamgrenze und der Hemmschwelle führt und die Menschen glauben lässt, wenn sie an einem Display agieren, sei alles erlaubt, was man mittels Tastatur machen kann. Es ist eine vielfach beschriebene, bedauerte und skandalisierte Folge der Digitalisierung der Kommunikation.

Sind Sie für Klarnamen im Internet?

Als ich mich erstmals damit beschäftigte, war ich dafür. Aber ich kenne inzwischen auch die Argumente dagegen. Ich habe da keine wirklich durchgreifende, kompetente Meinung dazu. Ich glaube, ich bin eher nicht dafür, da ich es als einschränkend und gefährlich halte, weil es Bereiche der Kommunikation einschränkt, die auf Anonymisierung angewiesen sind und hierdurch ein Stück Befreiung erleben.

Strafjustiz ist immer Unterschichten-dominiert

Warum wird der Rechtsstaat mit Fällen wie dem von Uli Hoeneß oder Bernie Ecclestone scheinbar nicht routiniert fertig? Sind die gesellschaftlichen Klassen zu nah beieinander?

Nein, das hat wenig damit zu tun. Ich bin mir nicht sicher. Der Fall Hoeneß scheint nicht mir nicht spektakulär. Der Täter hat eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung verbüßt. Zu Ecclestone: Die Strafjustiz hat große Probleme mit komplizierten Wirtschaftsstrafverfahren. Das hat in der Regel nichts mit den Personen der Beschuldigten zu tun, sondern mit der Struktur dieser Verfahren.

Strafjustiz ist aber immer Unterschichten-orientiert. Es geht stets vor allem um die "einfach" zu verfolgenden Personen, die einfach strukturierten Straftaten. Es geht um die "Dummköpfe", die "Verlierer", die "Outlaws" der Gesellschaften. Strafrecht wird umso schwieriger, je mehr man sich den wirklichen Macht- und Entscheidungsstrukturen der Gesellschaft nähert, die im hohen Maße kompliziert sind. Es sei empörend, dass die Bankenkrise nicht juristisch aufgearbeitet wird, beschweren sich viele Menschen. Wenn man dieselben Menschen aber bittet, die Bankenkrise einmal mal kurz zu erklären, kommt nichts als Unsinn heraus. Die wirklich bestimmenden Strukturen unserer Gesellschaft sind schwierig, insbesondere die Wirkungszusammenhänge im wirtschaftlichen Bereich, während das Totschlagen eines Menschen oder das Überfallen einer Tankstelle mit einer Waffe nicht ganz so kompliziert ist. Das kann jeder verstehen. Da gibt es einen Bösen, der einzusperren ist, und ein gutes Opfer, das ist einer von uns. Diejenigen aber, die die Welt durch Vernichtung der Ozeane oder Kriege oder durch Zerschlagung aller Sozialstrukturen zugrunde richten, können wir nicht fassen. Weil wir scheinbar alle die Täter sind, oder alle mit drinstecken. Wir wollen keine 100 Euro für einen „Sozialbetrüger“ zahlen, aber einhunderttausend Millionen Euro für die systemrelevanten Banken. Denn sonst könnte am Ende ja unsere Durchschnittsrente weniger als das 25fache des Durchschnittseinkommens eines Afrikaners betragen, oder das Superbenzin teurer werden.

Warum erleben wir eine Moralisierung des Rechts, der kollektiven Empörung?

Kollektive Empörung ist nichts Neues, die hat es schon immer gegeben. Es ist ein intellektuell eingeschränktes Konzept. Die Moralisierung des Rechts hat noch andere Bezüge. Wir leben in einer Zeit, in der die Außenleitung des Menschen immer stärker zurücktritt. Die Institutionen der informellen Kontrolle wie Familie, Dorfgemeinschaft, Religionsgemeinschaft, Verein oder Nachbarschaft haben keine Bedeutung mehr. Man kennt seine Nachbarschaft nicht und vermisst sie auch nicht. Vorgaben, was man zu tun hat, gibt es nicht mehr oder jedenfalls immer weniger: Dass man sonntags in die Kirche geht, dass man seinen Hut zu ziehen hat, wer was wo darf, und so weiter. Lauter veralberte Erinnerungen aus einer angeblich längst vergessenen Zeit, die aber tatsächlich erst 50 Jahre zurück liegt. Die Gesellschaft zerfällt in Ankündigungen von Freizeitveranstaltungen. Städte leben am Tag wie in der Nacht. Alle laufen in Jogginganzügen umher. Niemand interessiert sich für irgendwen. Anders gesagt: Die ganze Verantwortung für die Person, das ist die entscheidende Botschaft der Globalisierung und ihres „Agenda 2010“ genannten deutschen Programms, trifft den einzelnen Menschen. Ganz allein.

Ergo: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Die Bewertung des Lebensschicksals wird nach innen verlegt: Selbstoptimierung. Es kommt nur darauf an, was du in dir selbst bist. Der Einzelne wird ganz und gar verantwortlich für den Erfolg oder das Scheitern des eigenen Lebens, während um ihn herum die Gesellschaft in unendlich viele Puzzleteile zerfällt, die jeder anders zusammensetzt. Es ist kein Zufall, dass die Vorstellungen und Pläne der so genannten „Achtundsechziger“ heutzutage nur mehr als bescheuerte Fotos des Models Uschi Obermaier verkauft werden und den so genannten „ernsthaften“ Talkshow-Gästen nur noch zum Spott dienen.

Das alles führt dazu, dass die Menschen sich ängstigen. Sie wollen nämlich eine Gemeinschaft erleben, sich abgleichen. Die äußeren Strukturen werden heute in einem unvergleichlich hohen und schwer erträglichen Maße mit inneren Strukturen vermischt: mit Moral, mit der Vorstellung, es müsse eine Sicherheit geben, die aus der puren Identifikation mit dem Marktgeschehen erwächst. Das ist aber nicht möglich. Von den Rändern her und aus dem Inneren droht daher das Unheil immerzu.

Die Panik wird nach außen in einige wenige, vorgeblich übersichtliche Bereich projiziert. Wichtige sind etwa das Sexualstrafrecht oder das Äußerungsstrafrecht. Die sind symptomatisch dafür, dass zugleich mit einer allgemeinen Sicherheits-Hysterie die Vorstellung vom Kern der Person als zentralem Schutzgut des Rechts in den Vordergrund tritt. Es geht vorgeblich immer weniger um äußere Ordnung, sondern je mehr man den einzelnen verantwortlich macht für sich selbst, so mehr muss der einzelne sich als Mittelpunkt der Welt ansehen. „Wer mir unerlaubt an den Hintern fasst, muss der schlimmste Verbrecher von allen sein!“ Abends schauen sich die Selbstoptimierer im Fernsehen zu, wie sie dem „Internationalen Terrorismus“ durch unbeirrtes Biertrinken und Möbelkaufen trotzen. Der reiche Mensch schaut auf sich und fürchtet sich sehr. Der Arme gräbt derweil im Müll oder ertrinkt im Mittelmeer.

Sie haben vor 12 Jahren mehrere Bypässe bekommen. Hat sich damals Ihr Blick auf den Tod und das Sterben geändert?

Klar, natürlich. Wenn man in einer Extremsituation ist, ganz nah am Sterben, einen oder zwei Herzstillstände und Wiedererweckungen erlebt und sich dann auf einer herzchirurgischen Intensivstation befindet, schaut man anders auf die Welt als vorher. Man vergisst es dann aber auch wieder und gewöhnt sich die Normalität des Lebens. So ist der Mensch zum Glück.

Weitet es den Blick, verändert es das Leben im Alltag?

Es funktioniert nicht auf so eine unmittelbare, reflektierte Weise. Ich habe einige Zeit gebraucht, um zurückzukehren. Ich war schon nach drei Monaten wieder im Dienst. Das einzige, was da interessierte, war, wie viel Akten ich wieder wie schnell, bearbeiten konnte. Auch das ist eine interessante Erfahrung, die vielleicht Distanz lehren kann, aber auch Demut und Relativierung. Der grippale Infekt der Kollegin ist im Zweifel mindestens so bedeutend wie die eigene Todesangst. Jedenfalls habe ich mir auf der Intensivstation vorgenommen, da wieder rauszukommen. Und nach 15 Monaten habe ich wieder den Radmarathon „Rund um den Bodensee“ gefahren. Das war wichtiger als der Rest.

Der Mensch hält sich strukturell für unsterblich und kehrt möglichst schnell zu diesem Zustand zurück. Wir können uns nicht wirklich vorstellen, dass es keine Bedeutung habe, was wir den ganzen Tag daherreden. Die Behauptung, wenn man einen schweren Unfall habe, verändere man automatisch seinen Blick auf die Welt, glaube ich nicht. Die Biographie ist immer ein Ganzes und zerfällt nicht in Vorher und Nachher. Ich habe schon immer mit dem Tod von anderen Menschen zu tun gehabt. Mein Vater, meine Schwester, mein Bruder, Freunde von mir sind gestorben. Ich habe mich mit dem Tod beschäftigt, auch mit dem juristischen Umgang. Trotzdem wäre es albern zu behaupten, dass ich keine Angst vor meinem Tod habe oder ihm gelassen entgegen sehe.

Ich bin für eine liberale Regelung der Sterbehilfe

Wie halten Sie es mit Sterbehilfe?

Ich bin generell ein Vertreter einer liberalen Regelung von sogenannter Sterbehilfe und auch ein Gegner der derzeitigen Regelung der "Tötung auf Verlangen". Die heute bestehenden strafrechtlichen Grenzen sind willkürlich und in vielerlei Sinn ungerecht. Ein Rückzug des Strafrechts aus diesem Bereich könnte nur gut sein, denn es leistet nichts Gutes.

Wir leben mit circa 11.000 Suiziden und 100.000 Suizid-Versuchen pro Jahr in Deutschland. Sehr viele davon sind für die Betroffenen und deren Umgebung sehr belastend. Sehr viele der Betroffenen sind aber keineswegs Krebskranke im Endstadium, sonst hoffnungslos verlorene Menschen, sondern schlicht Personen, die an Depression erkrankt sind, Suchtkranke, wirtschaftlich ruinierte Personen – oder eine Mischung aus allem. Solche Menschen könnte man mit einer auffangenden Beratungs-Struktur das Leben retten und verhindern, dass sie brutale Taten gegen sich selbst vollziehen. Jeder Mensch hat Angst vor dem Sterben und würde sich wünschen, eine Möglichkeit zu einem zarten Ausgang zu haben. Wir müssen, wen wir einander achten und wertschätzen wollen, uns dazu eine Möglichkeit geben.

Der Schauspieler Dieter Mann sagt: Ich lasse mir ungern erklären, wie ich gelebt habe. Dann erklären Sie mir Ihres in Ihren Worten.

Ich schließe mich dem Zitat an. Das ist auch nichts für ein Interview. Die Fischer-Autobiographie steht noch bevor. Da wird sich das dann vielleicht erschließen.

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