Ganz unten

Armut Christiane Tramitz schaut in ihrem Roman nach ganz unten – und blickt dennoch nicht von oben herab

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Marzahn
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Foto: Andreas Rentz/Getty Images

Marzahn-Nord, 2017. In Platte 13, elfter Stock wartet Fabian Krüger, 58, auf das, was es in diesem Stadtteil nicht gibt: die Zukunft. Als ehemaliger Maschinenbauer aus der DDR lebt er von vierhundertvier Euro Hartz IV-Leistungen.

„Wenn du ganz unten ankommst, wartet nur noch der Tod auf dich“, ist ein zentraler Satz dieses Buches, welches nicht auf Alarmismus baut, sondern auf der realen Dramatik abgehängter Stadtteile. Und diese bestehen aus Menschen. Vielen Menschen. Hier ist das soziale Unten, die Menschen, die völlig den Anschluss verloren haben. Scheinbar gesichert durch Hartz IV und doch am Ende dessen, was dem Leben Sinn gibt: Integration in die Gesellschaft, ganz gleich, welcher Herkunft.

Wahrheiten schmerzen, die gefühlte Machtlosigkeit gegenüber diesen ungerechten Verhältnissen, lässt Kritiker im Internet rabiat aufschreien, Tramitz arbeite nur mit Klischees und würde alte Wunden wieder aufreißen. Doch das würde bedeuten, sie wären längst verheilt. Zwei Drittel der Kinder unter fünfzehn leben in Armut, lässt die Autorin Ordensschwester Michaela referieren. Es ist der zweite Erzählstrang, den sie geschickt und ohne Aufdringlichkeit mit dem Schicksal von Fabian Krüger verwebt. Die Ich-Erzählerin Michaela bildet dabei den Blick von Außen, ja sogar vom Westen – die Ordensschwestern kommen aus Köln, die eigene Integration will ihnen auch nach Jahren nicht gelingen.

Funktionieren wie eine Maschine

Fabian Krüger verlor nicht nur seine Stellung als leitender Angestellter, er verlor auch seine Frau und seinen Sohn. Für die allermeisten Menschen ist dies das Ende ihrer bürgerlichen Existenz. Ihm, der „immer wie eine Maschine funktionierte“ – auch beim Sex, ist das Leben „entronnen“. Viele von ihnen landen in der Gosse, werden drogenabhängig und irgendwann tot und verwahrlost aufgefunden.

Wo ist sie, die Realität der hiesigen Armut in der deutschsprachigen Literatur (Ausnahme: Südbalkon von Isabella Straub)? Sie ist genauso wenig ausreichend vertreten, wie das Bewusstsein, wie knapp viele Menschen an der Absturzkante in die Armut leben. Die neoliberale Meinung, man müsse nur genug leisten, um nicht in Armut zu abzukippen, widerlegt dieser Roman. Die Selber-Schuld-Lüge gilt es zu bekämpfen.
Wo ist er falsch abgebogen im Leben, fragt sich Krüger — er, der Alt-Marzahner, schlug ein Job-Angebot im Westen nach der Wende aus. Seine Treue, die im alten System alles bedeutete, sollte den Beginn seines Abstiegs markieren.

Christiane Tramitz findet den richtigen Ton, ihre Protagonisten nicht vorzuführen. Sie beschreibt eben nicht die Klischees von Drogenexzessen oder Gewalt. Tramitz erfasst die beklemmenden Momente. Warum werden Menschen zu perfekten Kopfrechnern im Supermarkt? Wieso geht man am besten mit einer Rewe-Tüte aus der Tafel heraus? Und warum meist gar nicht erst hin.

Die Handlungsstränge umarmen sich logisch wie eine DNA. Sie sind existenziell für das Verstehen des Lebensabsturzes eines Menschen, der alles richtig machen wollte, aber an der Brandung der Ereignisse fast zerschmettert wurde - der aber gleichzeitig nicht seine Aufrichtigkeit einbüßt: Dem Geschwisterpaar aus dem achten Stock, deren Mutter ein Phantom scheint, hilft er trotz seiner sehr begrenzten Mittel und beweist, dass Nächstenliebe keine Frage des Oben oder Unten ist.

Kein Bashing

Tramitz weiß, wovon sie spricht, denn auch wenn das Buch wie ein gutgeschriebener Roman daherkommt, ist er es nicht. Sie recherchierte vor Ort, die Ordensschwestern waren ihr Ausgangspunkt. Viele Personen gibt es in der Realität, natürlich verfremdet. Das lässt den Text noch viel stärker werden. Die Autorin schafft ein erklärendes Mosaik des sozialen Abstiegs in Deutschland. Sie beleuchtet das uns alle umgebende und betreffende Unten, vor dem keiner wirklich gefeiht ist. Das vorgeworfene Bashing eines Stadtteils ist dabei ein Fehlgedanke.

Literatur muss diese Lebenswelt mehr und sachlich abbilden. Tramitz gibt dem Unten eine Stimme. Sie riskiert damit ein eigenes Unten: Geringe Verkaufszahlen, keine effektheischende „Stella“-Aufregung, sondern das, was die Leserschaft oft fürchtet: die Realität.

Die Schwestern von Marzahn: Christiane Tramitz, Ludwig Verlag, München 2019, 20€

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