Keiner mehr da

Verlassene Städte Mat Hennek hat viel Mühe darauf verwendet, die Infrastruktur von Großstädten ohne Menschen abzulichten. Das hat visionären Charakter

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Manchmal wird man ja von seiner eigenen Courage in einer Sache überrascht. Wenn einen die Dinge überholen und mit offenem Mund staunen lassen. Vielleicht ging und geht es auch Mat Hennek so. Man hat eine Idee von etwas, das eine reine Fantasievorstellung ist. Und dann wird es wahr. Einfach so. Unvorhersehbar. Ohne dass ein Mensch dagegen etwas tun könnte, außer auf die Notwendigkeiten zu reagieren, wie in früheren Urzeiten. Zurückweichend, die eigene Schwäche zähneknirschend anerkennend.

Wer ist hier der Herr?

Die Corona-Pandemie hat den industrialisierten Menschen sich Untertan gemacht. Der Mensch, der dachte, er sei der Natur längst regulierender Herr. Puff, zack. Alles ist anders. Ein halbes Jahr mit einer Pandemie, die vor einem Jahr jeder noch als ein Hirngespinst abgetan hätte. Lockdowns, Massengräber vor New York, Militärlaster mit Leichen in Italien. Wir werden auch hier wieder erst retrospektiv begreifen können, was wir da für eine Dimension an Lebensveränderung erlebt haben und verarbeiten mussten. Es ist ein manifester und wohl noch lange währender Eingriff in das Leben aller. Das alles wird Dinge, die als unumstößlich galten (ganz wichtige Dienstreisen!), ihrer Bedeutung berauben. Es wird die Digitalisierung in einer Art katalysieren, die Beamten die Frisur nach hinten reissen wird.

Aber es wird auch das grundlegende Bedürfnis nach Resonanz und Herzlichkeit befeuern und von den kalten Ansichten des Kapitalismus entmotten. Ganz so wie der Roman von Thomas Glavinic Die Arbeit der Nacht. In dem Roman aus 2006,spielt der österreichische Autor die Fantasie durch: Du wachst morgens auf und bist der einzige Mensch auf Erden. Während der Lockdown-Zeit war diese Fantasie plötzlich viel mehr Realität, als je zuvor. Und der moderne Mensch merkt: diese gefühlte Fixierung in der Welt,ist viel fragiler, als er es sich in seinem Wertesystem der letzten vierzig Jahre hat vorstellen können.

Enge wird ein Malus

Mat Hennek hat in seinem Bildband Silent Cities sicher einige Mühe darauf verwendet, seine Abbildungen ohne den Menschen, der diese Baukulturen geschaffen und bewohnt hat, abzulichten. Wenige Monate nach Publikation wäre das einfacher gewesen, wer hätte das gedacht: Innenstädte während des Lockdowns völlig leer. Hochhäuser verwaist. Bis heute werden in New York nur acht Prozent der Bürohäuser wieder genutzt. Es ist unvorstellbar, wie vorher obligatorische Bausubstanz und Fläche plötzlich nicht mehr gebraucht wird. Einfach überflüssig.

New York wirkt verlassen. Das was vorher als Status galt, in der Enge einer Metropole seinen Platz zu finden und zu verteidigen, wird heute als Fluchtgrund genannt. Bloß nicht zu eng! Aber vielleicht ist es das Pendel der Natur in Verbindung mit dem Streben des Menschens, immer an ein Limit zu kommen – und dann wieder in das Gegenteil zu pendeln? Erst immer enger, voller, weiter, höher. Dann alles wieder zurück. Und dann irgendwann wieder in die andere Richtung.

Der verlassene Kokon des Kapitalismus

Hennek hat es geschafft, die menschengemachte Infrastruktur für die Erreichung kapitalistischer Ziele so abzulichten, dass ihr Bauherr nun nie zu sehen ist. Auch nicht, wenn man mit einer Lupe schaut. Und die Frage ist, ob es das ganze nicht in einen betrachtenden Bereich des grotesken verlagert. Was ist die Szenerie ohne die sie gestaltenden Wesen? Eine leere Hülle ohne Sinnzusammenhang zu ihren Dimensionen? Sicher. Denn alles ungenutzte hat den spontanen Verdacht des sinnlosen, des kritisch zu betrachtenden. Wer braucht denn sowas?, ist eine Frage, die schnell aufkommt. Und, wofür braucht(e) man sowas?

Zuhause als neue multifunktionale Einheit

So wird es uns nicht bei den Wohnhäusern gehen. Sie werden eine viel wichtigere Rolle -weltweit- spielen. Sie werden zu den neuen Lebensflächen des Menschen avancieren. Nicht erst, seit Hubertus Heil ein Recht auf Home Office fordert (und dies aktuell noch konkretisiert hat) oder Friedrich Merz merkt, dass die dogmatische Arbeitsmühle sich ihrer Begrüdung beraubt sieht.

Zuhause wird eine neue multifunktionale Einheit des menschlichen Verbleibs werden. Doch wie sieht eine Wohnung aus, die sowohl der Arbeit als auch dem Privatleben unter zeitlicher Reduzierung des äußeren Verweilens gerecht werden soll? Werden Wohnungen günstiger, dafür größer? Wird es eine neue Besteuerung oder Teilübernahme der Miete durch den Arbeitgeber geben? Wie werden die immensen Leerstände von gewerblich genutzten Flächen kompensiert?

Wohnt man bald mitten in Manhattan in einem Bürohaus, weil die eigentliche Nutzung als reine Bürofläche ausgedient hat? Generell zeigt sich uns, dass das materiell Geschaffene seine Seele durch Menschen bekommt, aber diese Seele im Umkehrschluss nichts Materielles zum Sein in der Welt benötigt. Die Infrastruktur wirkt wie ein zurückgelassener Kokon eines Tieres. Vielleicht befinden wir uns, analog zum Tierreich, mitten in einer Häutung aus den betongewordenen Imperativen des Kapitalismus. Eine Transformation, der es gespannt beizuwohnen gilt. Mat Hennek, ein Visionär.

Apropos: Sind Sie da draußen noch da? Hallo?

Mat Hennek: Silent Cities. Steidl 2020. 48€

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