Lesen, eine Kunst

Bildband Lawrence Schwartzwald hat scheinbar Banales fotografiert und dabei Großes geschaffen: Die lesende Realität

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Subway Platform, 8th Street, NYC, 2014
Subway Platform, 8th Street, NYC, 2014

Foto: Lawrence Schwartzwald

"Wenn Shakespeare der größte Dichter und Minetti der größte Schauspieler, dann ist Unseld der größte Verleger." So begann Thomas Bernhard sein Manuskript zu „Unseld“ (Suhrkamp, 1984). Für den Photographen Lawrence Schwartzwald gelten ähnliche Maßstäbe, vielleicht sogar noch größere, da man ihn nicht kontexturieren muss. Jeder tut es, irgendwie, auch die von Prof. Spitzer als an die Technologie verloren geglaubten jungen Menschen. Denn sie alle vereint etwas. Etwas, das auch Sie gerade tun. Ja, Sie da. Was tue ich denn?, fragen Sie sich.

Sie lesen. Natürlich, was denn sonst, kontern Sie, nicht gerade amüsiert über das, was ich Ihnen da vorführe. Nicht schlimm, rufe ich, da haben wir eine viel bessere Lösung. Der New Yorker Schwartzwald nahm sich ein Motiv, das in seiner primären Banalität keinen Galeristen aus den Schuhen hat. Auch das nicht schlimm, denn das Thema haute jemanden aus den Schuhen, ganz metaphorisch gesprochen, der mehr ist als eine Galerie. Ausgerechnet bei Strand, dem New Yorker Buchladen (828 Broadway; Claim: 18 Miles of Books), erlebte Schwartzwald den Göttinger Verleger Gerhard Steidl bei einer Signiertstunde eines Steidl-Autors.

Vom Lesen zum Fotografieren und zurück

Schwartzwald kam über das Lesen zum Fotografieren. Anfang der Siebziger fiel ihm das Buch On Reading von André Kertész in die Hände und sensibilisierte ihn für das Motiv des Lesenden. Eine fast klassische Geschichte des Emporkommens: Erst hangelte er sich von Job zu Job, reiste durch Europa, schrieb sich an der NYU ein und studierte - was sonst? - Literatur. Nicht weit entfernt von seiner Wohnung lag Strand.

1993 veröffentlichte die New York Times das erste Foto des bis dahin amateurhaft fotografierenden Schwartzwald. 2001 markierte dann das Motiv "Romantic Books" den Start seiner The Art of Reading-Motive. Er wolle das "reading nirvana" mit den Bildern erreichen.

Das gedruckte Buch ist dabei so omnipräsent, dass die Begutachtung des Buches als Benzodiazepin der Verlagswelt durchgehen könnte. Menschen die lesen, lesen, lesen. Und das auf Papier, diesem Medium von gestern, wie Neumanager mit Valley-Grundkurs im Hoddie raushusten. Allerdings, das räumt auch Schwartzwald ein, hätten die Zeiten sich in den letzten zwei Jahren zunehmend geändert; das Smartphone sei eben dann doch vorherrschend.

Wozu lesen?

Schwartzwalds Bilder ergeben dabei Geschichten über etwas, was man auch ganz fachlich ausdrücken könnte: Rezeptionsästhetik. Wenngleich die Ästhetik im weiteren Sinne verschiedenen Bewertungsmatrix entspricht: Wo, wann, wie, was, warum liest jemand dieses Buch. Ist es Ausrede, somit ein gesellschaftliches Werkzeug zur Resonanzregulierung (Hartmut Rosa!) oder ein Begehren des Inhalts? Dient es der Flucht aus dem Alltag, dem Überbrücken von Leerzeiten oder Nicht-Orten. Wem oder was dient es? Dem Straßenverkäufer, der Romantic Books feilbietet, und gleichzeitig bei Herausstellung seines Maurerdekolletees eines seiner Bücher selber verschlingt. Ist es ein Arm der hinter einer charakteristischen Stahlsäule der New York Underground hervorragt und nur das Buch nebst Hand (Brecht: Der Mensch ist nur der mechanische Halter...) oder die Schuhputzer, die Ihre Wartezeit auf den nächsten Kunden mit Lesestoff überbrücken.

Auch Promis lesen

Ein Missverständnis muss man gleich ausräumen: Nur weil Amy Winehouse auf dem Cover eingeklebt (himmelblaues Leinen), oder Anne Hathaway beim Essen zeitunglesend abgebildet ist, ist dies kein Buch über prominente Leser*innen - mitnichten. Schwartzwald ist Purist in der Interpretation seines Motivs; nur das Lesen bestimmt die Notwendigkeit der Aufnahme.

Wenn Vivienne Gucwa das Ur-Meter für die New Yorker Städtefotografie ist, dann ist Schwartzwald der Inszenator für gelebte Rezeption unseres intellektuellen Erbes.

Lawrence Schwartzwald: The Art of Reading, Steidl Verlag, Göttingen 2018, 28€

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