Musikvorschläge zum Lesen
Indila: Dernière Danse oder Christophe Maé: Il est où le bonheur
Es gäbe im Japanischen ein Wort für Touristen, die von Paris enttäuscht sind, gibt mir ein weiser Freund auf den Weg. Dann kann die Enttäuschung ja losgehen!
Wenn Sie Peter Handke zum Interview in seinem Haus bei Paris (Bahnhof Chaville-Velizy) besuchen dürfen, dann kommen Sie um Paris nicht herum. Es ist unumgänglich. Doch bevor es zu dem weltberühmten Schriftsteller in den Pariser Vorort geht, geht es ersteinmal durch das Dickicht aus baulicher Geschichte und Touristen - wobei man sich fragt, was schwerer wiegt.
Generell sind Erwartungen an Urlaube ein schwieriges Thema und multikomplexe Verwerfungsstränge in Reisegemeinschaften die Folge. Vielleicht würde es Touristen besser gehen, würden sie nicht komplett anlasslos reisen. In Zeiten des weiterhin konstant boomenden Tourismus‘ gilt die anlasslose Reise als das Allheilmittel gegen die alltäglichen Zwänge des Kapitalismus‘. Dennoch, Zeit muss genutzt werden, Erholung ist angeordnet (frei nach Roger Willemsens Deutschlandreise)! Streit ist vorprogrammiert, die leisure sickness schlägt zu und in den Beziehungen herrscht Erfüllungsterror.
Terror ist derweil im Bordrestaurant ein relevantes Thema. Nachdem der ICE bis Saarbrücken dahindümpelte, die Grenze passierte und die Häuser den französischen Flair hochhalten und der Zug ganz plötzlich mit 320 km/h durch die französische Landschaft schiesst, ist nicht nur der ICE am Limit, sondern auch die Themengestaltung der Nachbartische. Die Amokläufe im November 2015 sind grenz-wertig passable Tischgespräche. Die bevorstehende Rücksichtslosigkeit des französischen Straßenverkehrs wird hier erstmal am Tisch in Meinungsverbalisierung ausgelebt. Man hätte vielleicht ein Testament machen sollen, raunt der Ökotourist mit lauter Stimme und Zopf seiner Sekt befüllten Reisebegleitung zu, die er nicht nur durch die Jardin des Tuileries führen will. Man giggelt und findet sich total random, sich doch nicht zu liebevoll von den Kindern verabschiedet zu haben. Der vierte Sekko war wohl einer zu viel.
In der Halle des Gare de l‘Est hält der ICE direkt vor einem Prellbock aus Stein: hier wird nicht gepuffert, hier wird im Fall der Fälle am Stein zerschellt. Eisenbahnfatalismus. In der Halle zwitschern Vögel und der erste Gedanke ist, dass hier also wirklich Vogelgezwitscher eingespielt wird, um die Touristen zu umschmeicheln. Doch, nein, es sind echte Vögel. Ob die freiwillig zwitschern?
Nur 44 Schritte dauert es, bis man in die Mündung eines Maschinengewehrs blinzelt. Es tragen Menschen in Tarnfarben mit schwarzem Hütchen, welche neckisch aussehen. Das sollte man ihnen, den Soldaten, nicht sagen. Denn ihre Aufgabe ist nicht neckisch. Sie sind eine Antwort. Eine dauerhafte Reaktion auf eine potentielle Gefahr. Eine Gefahr, die wie in wenigen anderen Städten nicht nur eine Ausnahme, sondern eine Regelmäßigkeit erfuhr, die einen frieren lässt. Aber vielleicht, ganz abstrakt, ist es auch logisch: diese Lebensbejahung kann einen auch auf die Palme bringen. Und so sieht man immer wieder den Bruch der vergangenen Realität, dass jemand hier dieses Lebensgefühl des an der Straße sitzenden douce vie zerstören wollte. Mit aller Gewalt. Mit penibler Grausamkeit. Fast beamtenhaft. Auf Youtube gibt es ein Video, das ein Feuergefecht bei den Anschlägen im November 2015 zeigt. Mitten in dieser bilderbuchhaften Filmszenerie blitzen Schüsse in der Nacht auf, ein verlassener Löschzug der Feuerwehr blinkt vor sich hin. Die Polizisten sind völlig unterbewaffnet. Sie könnten auch Salzstreuer von den Tischen des Cafés gegen die bis unter die Zähne bewaffneten Terroristen werfen.
Diese Stadt scheint nur aus Cafés zu bestehen und das schon etwas länger. Wie haben wir damals in Hannover nur überleben können, in einer Stadt, in der ein Franchisecafé als gangbares Samstagscafé galt?
Die Münzklicker der Bedienungen an ihren Gürteln klickern, wenn sie einem ungern das Rückgeld geben, nachdem sie die Getränkeflaschen auf ihrem Unterarm für den Gast sichtbar geöffnet haben. Nichts drin, reine Flaschen, soll das sagen. Schwierig wird es, wenn man beim Essen kein Team bildet, wenn man einzeln ist. „Only you?“ wird vom Kellner mit einer solchen Kurve der abfallenden Intonation gefragt, das man sich reflexhaft entschuldigen will. Die Gastronomie ist sich ihres Potentials ohne eigenes Zutun durchaus bewusst und lebt dieses auch aus. Was soll auch passieren? Wir sind in Paris! Ouh!
Wo viel Mensch, da viel Müll und so dröhnt die Müllabfuhr auch abends nach acht unbeachtet durch die Straßen, die scheinbar alle einem Boulevard nachempfunden sind. Himmel! Selbst die Müllabfuhr kann dem Panorama nichts anhaben. Am Heck blinkt ein Display, ich lese „Patience“ – ah, soll man die Abfuhr mit sich geschehen lassen? Denkt sich vielleicht auch der Mann als er sein Date (erstes Treffen, knöchelknetend) fragt, ob sie french readen könnte. Yes, haucht sie, und sie reden auf Englisch weiter und bestellen Muscheln. Natürlich. Uh, und der Wein sei ein ehrlicher Wein, raunt er und zieht die Augenbraue zusammen. So ehrlich wie du?, hüstelt sie zurück. Ist das da eine Tinder-Notification auf seinem Display?
Neben den Soldaten an Verkehrsknotenpunkten, sieht man auch gerne Polizei. Hier oft in neckischen französischen Kleinwagen, deren Martinshorn man lauter und leiser stellen kann, um die Romantik in den Gassen nicht durch hallendes Horn anzugreifen. Man kann in den Hörnchenmodus stellen. Auch ist die Polizei gerne in Zivil unterwegs und dann auch gerne gleich zu viert. Wenn eingreifen, dann bitte in vorangenommener Überzahl.
Wer den Bahnhof erschlendert wird feststellen, dass Bahnspotter es hierzulande - wie in Großbritannien - schwer haben, denn die Bahnsteige sind tabu bis auf wenige Bahnsteiggleise. Warum sind diese frei zugänglich? Oder sind das Strecken, die als so langweilig gelten, das man sie vernachlässigen kann? Besser nicht fragen, das Hotelzimmer ist zu teuer, um es gegen eine Zellenpritsche zu tauschen. Aber vielleicht hat die Zelle mehr Quadratmeter?
Wer sich in Deutschland über schlechtes Wagenmaterial der Deutschen Bahn beschwert, sollte sich hier mal die Vorortzüge anschauen. Sie sehen aus wie Ebenen wechselnde Horrorkisten. Die Security der Eisenbahn trägt Schusswaffen, die mit Kabeln an ihrem Gürteln verbunden sind. Es sind also nicht nur Dekorwaffen, sondern man ist sich der sekundären Gefahr von Waffenträgern bewusst. Das Kabel soll das entreißen der Waffe verhindern. Es durchzuckt wieder die Tatsache der latenten Gefahr durch. Sonstige Security sieht aus wie bewaffnet, ist es aber nicht, dafür haben sie Tränengas, das so groß wie eine Wasserflasche ist.
Zebrastreifen sind hier nur eine Orientierung. Ulrich Wickert ging 1991 todesmutig über den Place de la Concord; der Verkehr ist laut, ständig und aggressiv. Hupaffines Fahrpersonal kommt hier auf seine Kosten und vor allem ändert es nichts, welches den Kreisschluss zulässt, einfach weiterzuhupen. Das Rot der Ampeln gilt nicht für Roller und auch sonst sind Regeln Verhandlungssache. Wenn man in ein Taxi an einem Taxistand einsteigen will, sollte man vorher schauen, dass es wirklich ein Taxi ist und nicht der örtliche Maler mit einem weißen Kombi, der auf seine Tochter wartet. Fragen Sie nicht, wer neben dem Maler saß.
Auf der Rue Granade (granatenmäßig schön) sitzen drei Frauen parlierend auf dem Eckbalkon des weiß gestrichenen Eckhauses. Es sieht aus wie Kulisse, aber begehbare Kulisse. Hinter den Hauswänden scheint es wirklich weiterzugehen. Keine Metallgestelle wie in der Filmindustrie. Welch´ Glück müssen diese Menschen da auf dem Balkon zuteil geworden sein, hier wirklich wohnen zu können. Spüren die das? Oder ist es wie in einer Zigarettenwerbung: nur zehn Sekunden lang schön?
In einem Park mit grünen Bänken sitzen Menschen wie auf einer H0-Eisenbahnanlage; eine Frau kann sich nicht entscheiden, wie sie sitzen soll, sie sitzt quer über die Bank. Und natürlich hat man ein Baguette dabei. Übrigens haben hier wirklich viele Menschen ein Baguette dabei. Da fühlt man sich fast desavouiert.
Apropos Nahrung: Wie wird sie hier zelebriert, egal in welcher Art. Da brennen einem fast die Augen, mit welch´ Anmut genossen wird, wie die Mittagspause ihrer Beschreibung gerecht wird, wie aus stumpfen Gläsern unfassbar leckerer Wein sich gekippt wird. Mittags! Völlig ohne schlechtes Gewissen! Anlass zur Enttäuschung trotz zigfachem Test ist der Café au lait. Entweder ist das mit der Schale ein deutscher Witz oder die eigene Caféwahl war peinlich grottig. Überall sah der Café aus wie zwischen Witten/Herdecke und Winsen (Luhe) in schlechten Franchise-Backstuben. In Gläsern mit Metallgestell. Merde! Die Neunziger haben ihr Service wohl in die Pariser Zukunft verloren.
Eine Stadt des anlasslosen vor der Tür Sitzens – für Spaß befreite sicher eine Höllenszenerie. Hölle herrscht auch im Zigarettenladen, der auch Zigarren führt: High Security, Kameras überall. Auf die Frage, ob die Zigaretten so in Gefahr seien, grinst der Verkäufer. Nein, aber die Menschen, die hier arbeiten, sagt er in perfektem Englisch. Generell ist es überall Englisch, welches einem wiederfährt wenn man nett fragt. Alles andere auch nur dumme Gerüchte – oder vergangenes Klischee?
Vorbei rast ein Transporter der Polizei. Um sich den hinteren Blaulichtbalken zu sparen, montierte man den einzigen in die Mitte auf das Dach. In Deutschland unvorstellbar. Generell sind viele Einsatzfahrzeuge von einer Bauart...man müsste hierzulande Einsatzkräfte an den Fahrzeugsitz fesseln, dass sie diese benützten. Viele „Etablissements“ sind „sous video surveillance“ – ok – und die Klingeln sind ersetzt durch Tastaturen in die man unbekannte Codes eingeben muss. Welche Erbtante haben diese namenlosen, codevollen Menschen erschlagen, damit sie hier wohnen dürfen? Was verdienen sie? Und was ihre Putzfrau, die wagemutig die vier Meter hohen Fenster um 21:23 Uhr wienert?
Eine Touristentraube schiebt sich durch die Straße mit Schirm der Reiseleiterin vorweg. Why not?!, schnauzt der Bettler Cafésitzer an. Warum sie keine Kohle gäben, brummt er sie missmutig an. Die Armut ist nicht latent, nicht einfach so vorhanden; sie hat sich in aggressive Armut gewandelt, in unumkehrbare Distanz, in Hass. So gewiss die Damen auf dem Eckbalkon sich ihres Status´ sind, umso mehr fragt er, warum er kein Geld in seinen zerfransten Becher bekommt.
Ob der örtliche Malermeister wirklich ein Taxifahrer ist, hätte man auch am Beifahrersitz seines Wagens erkennen können. Trotz fehlender Trennscheibe, machen doch alle Taxifahrer/-innen klar, dass neben ihnen nur Platz für sich selbst ist und für sonst niemanden. Am Gare du Nord herrscht reges Taxizuweisungsregelement, ein strenger Mann mit Warnweste und Trillerpfeife. Es ist wenig los, so können die Fahrer neben der offenen Pinkelbox diskutieren. Immer eine Prise frischen und alten Urins am Gesicht.
Die Taxischilder sind ganz eigener Professionalität entsprungen, so sagen sie mehr aus, als nur besetzt oder frei. Was genau, scheint dann doch zu komplex. Außer dass Kartenzahlung in Taxis als völlig normal angesehen wird. Auch von den Taxifahrern. Sagen Sie das mal in Berlin weiter.
Zwischen auf der Kreuzung stehenden Fahrzeugen schießen wie Sternschnuppen Rollerfahrer hindurch. Erfahrene und altersmäßig arrivierte Herrschaften haben einen Dreiradroller mit Beinplüsch. Damit es nicht so an den Beinchen zieht. Der erfahrene Pendler hat hier also einen bepelzten Hosenanzug am Roller.
In der Vorstadt gilt auch das gleiche wie in Paris. Es ist schön, es ist Lebensstil, es ist kultiviert. Warum nur? Doch umso mehr es durch Zufall an den durch dienstliche Notwendigkeiten erlebten Stellen schön ist, umso mehr muss es eine Kehrseite geben. Die „Why-not?!-Kehrseite“. Dazu braucht man nur Eribon lesen (Rückkehr nach Reims, Suhrkamp 2016).
In Paris ankommen ist wohl unmöglich. Die Füße brennen, die Schrittzahl auf dem Smartphone explodiert, aber dennoch hat man vielleicht ein Promille gesehen. Warum so viel Schönheit an Bauten, an Läden, an fröhlichem Sein(e)? Und warum sieht das Zuhause nicht so aus? Oder sind es verschränkte Wahrnehmungsblicke? Nur der von außen schaut, erlebt?
Beim Reisen anzukommen, ist für viele nicht vorstellbar. Sie hetzen, sammeln Städte wie Abzeichen in der Schützengesellschaft. Reisen kann überfordern, weil das eben nicht geht. Man kann eine Stadt nicht final erkunden, wirklich erleben, spüren. Es ist immer nur ein kläglicher Versuch. Eine bruchstückhafte Momentaufnahme.
Die Schönheit dieser Stadt kann einen zugrunde richten, indem sie einem alles nimmt an das man bisher das Adjektiv schön geheftet hat. Was hat man bisher verpasst, was hält ein Mensch aus, zu verpassen? Wieder die alte Frage, was Heimat ist und ob jemand diesen Lebensstil auch als hässlich empfinden kann?
Die Sorge vor der Rückkehr ins kulturelle, ästhetische Nirvana ist groß – und wie sich rausstellt: berechtigt.
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