Nachtlichtromantisierung

Atmosphäre Orhan Pamuk streift durch Istanbul und zeigt, dass Orange ein Zeitabschnitt ist

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Nachtlichtromantisierung

Orange by Orhan Pamuk published by Steidl Verlag www.steidl.de

Hörtipp für diesen Artikel: Johnny Cash - Hurt (remastered version on Youtube)

Wer kümmert sich um Beleuchtung?, könnte man fragen, wenn man das neue Werk des Literaturnobelpreisträgers (2006) Orhan Pamuk in die Hand nimmt. In dem in orangenen Leinen gefassten Werk dreht sich alles um die Istanbuler Straßenbeleuchtung. Und das hat einen entscheidenden Grund: die Lichtfarbe wird in Istanbul nach und nach umgestellt. LED hält Einzug in die schier unendlichen Straßen und Gässchen der Metropole am Bosporus. Doch leider ist es mit der Modernität so eine Sache. Die Bewahrung von Grundwerten kann durchaus Sinn machen. In diesem Fall aber legte die Stadtverwaltung keinen Wert darauf und so wird sich die Farbe von Istanbul in der Nacht nach und nach ändern. Von orange zu weiß.

Hell soll es sein

Das neue LED-Licht hat nämlich nicht mehr den orangenen Lichtton, sondern einen kalten weißen. Man kann jetzt von Nachtlichtromantisierung sprechen, doch es hat schon seinen Grund, den Lichtton in der atmosphärischen Bewertung nicht außer Acht zu lassen. Denn der Mensch nimmt diesen mehr wahr, als man gemeinhin denkt. Die hannoverschen Verkehrsbetriebe ÜSTRA haben vor ein paar Jahren eine neue Stadtbahn, den TW 3000, eingeführt. Dieser verfügt aus Umweltschutzgründen über keine Klimaanlage. Doch neben der Lüftungsanlage soll noch ein weiteres Feature für ein angenehmes Gefühl bei Temperaturextremen helfen: die Lichtfarbe. So kann der Fahrer entsprechend den äußeren Bedingungen einstellen: orange bei Kälte, blau, wenn es draußen heiß ist und grün zur Beruhigung bei vollen Bahnen durch Großveranstaltungen (vor Corona...). Der Autor dieses Artikels hat dies selber ausprobiert und kann bestätigen, es wirkt. Nichts gegen die Klimaanlage in den Straßenbahnen der Wiener Linien, die es schaffen, einem den Nacken schockzugefrosten, aber es unterstreicht die Intention der nicht-klimatisierten Lüftungsanlage in den hannoverschen Stadtbahnen.

Vom Balkon auf die Straße

Pamuk fällt immer wieder durch Langzeitdokumentationen auf. Im Winter 2011 stellte er auf seinem Balkon eine Kamera auf und lichtete die Bucht des Bosporus auf über 8500 Bildern ab. Das Ergebnis erschien auch bei seinem Göttinger Verleger Steidl unter dem Titel Balkon. Nun lichtet Pamuk auf hunderten Fotos die Gassen und Straßen von Istanbul ab. Die meisten noch in dem "alten" Licht. Er sieht sich damit als Archivar einer Zeit, die in Istanbul nach und nach verschwinden wird, wie einige der Bilder auch zeigen. Das neue, weiße LED-Licht macht heller, das stimmt. Vielleicht auch sicherer. Man sieht mehr. Aber will man das immer? Will man auch nachts alles sehen oder gebietet die Nacht nicht die Chance anderes genauer zu sehen, weil man nicht mehr alles sehen kann? Das weiße Licht nimmt den warmen, umhüllenden Charme der orangenen Beleuchtung, die nachts eine ganz andere, tagesabgewandte Wirklichkeitsrezeption möglich machte. Eine Stimmung, die nur durch das Beschreiten der Wege aufnehmbar ist. Begeistert aufgenommen wurde der immer noch unter Polizeischutz stehende Autor dabei nicht immer. Denn er ging durch alle Stadtteile, auch die "schwierigen". Und die ungeschönte Dokumentation des Ist-Zustandes findet nur rückblickend bei den meisten Menschen Zustimmung. Zum Jetzt und seinen immanenten Widrigkeiten wollen nicht alle gehören.

Die Umschließung der physischen Welt

So still und verstummt die Bilder manchmal wirken, Pamuk war nie allein, denn mindestens ein Personenschützer folgt ihm auf Schritt und Tritt. Seit Jahren. Das nimmt den Bildern nicht ihren Flair, vielleicht hat dies einige Bilder erst möglich gemacht, da bei Anfeindungen der Autor nicht alleine dastand. Gelohnt hat sich dieser Band auf jedenfall. Er ist aufgeladen mit abendlichem Leben, bei dem Menschen nicht in interaktiver Rolle im Mittelpunkt stehen. Sie sind eher ein Beiwerk. Da sind auch Menschen. Mehr geht es Pamuk aber um das Licht, wie es unsere physische Welt umschließt und durch die Lichtfarbe in eine atmosphärische Stimmung setzt, die durch Worte nur schwer zu beschreiben ist. Und wenn in nicht allzuferner Zeit Istanbul nachts nur noch weiß zu sehen ist, dann bleiben diese herrlich gedruckten Bilder aus der Druckschmiede Gerhard Steidls. Diese Bilder mit dem saugstarken, groben Papier, das, wenn man es aneinander reibt, so schön raschelt und rauscht als wenn man die Gischt vom Bosporus hörte.

Orhan Pamuk: Orange, Steidl Verlag, 38€

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