Nie wieder Mallorca

Literatur Andreas Maier will nicht reisen und zaubert mit „Die Städte“ doch einen Hauch von Sommer und Salz auf die Lippen
Ausgabe 12/2021

Nicht erst seit Gerhard Polts Man spricht deutsh weiß man, dass der „erholsame“ Urlaub ein äußerst unwahrscheinliches Konstrukt ist. Und jetzt, bei allem Leid durch die Pandemie, hat das Virus die Menschheit dazu gezwungen, innezuhalten, auf sich zu hören. Für viele Menschen ist diese Mischung aus innerem Güllefass und Vakuum kaum auszuhalten. Das Reisen war, wie vieles andere, das Diazepam des Alltäglichen – mit dem gleichen Suchtpotenzial wie der Wirkstoff Benzodiazepin. Es löst grandios Angstzustände, macht aber schneller süchtig, als der Mensch wieder Angst haben kann, und löst in keiner Form die Angst auslösenden Probleme. So ist der Urlaub auch nur ein Painkiller und selten die Möglichkeit irgendwie neuer Welterfahrung.

Andreas Maier wollte sich mit elf Jahren bereits aus dem Korsett des Reisezwangs verabschieden. Seine nur nach außen hin sehr „richtige“ Familie in der hessischen Wetterau (das ist Nowhereland nördlich von Frankfurt am Main) war für ihn der leidliche Rahmen, aus dem er ausbrechen musste. Nicht erst mit diesem neuen Band des autobiografischen Romanprojekts Ortsumgehung reflektiert Maier mit seinem Protagonisten „Andreas“ das Reisen als Wackerstein des Lebens. Auch im Band Die Universität (Suhrkamp 2018) sitzt der „fiktive“ Andreas am Frankfurter Hauptbahnhof und will gen Süden, doch eine innere Stimme (und naturgemäß auch neurotische Zwänge) hindert ihn daran, den Weg hin zur Entspannung zu wählen. Er hält sich, wie Jakob Arjounis Detektiv Kemal Kayankaya, lieber an einem Bier fest, er lässt sein bisheriges Reiseleben in selbstironisch-frischer Haltung Revue passieren als ein Mensch, der es noch kann: auf sich selbst schauen.

Wohl jeder kennt diese Torturen der Kindheit. Mitten in der Nacht ins Auto. Enge, Müdigkeit, unfassbare Langeweile, wortlose Qual und die Mutter, die erfolglos aufheiternd Brötchen verteilt. Der Protagonist hört aber auf sein Ich und terrorisiert so lange, bis er von der Reiseteilnehmerliste fliegt. Maiers Familie reist weiter. Maier selbst hingegen begibt sich auf eine ungewisse Reise des Oszillierens zwischen heimatlicher Sesshaftigkeit und dem doch irgendwie sublimierten Drang zur nahen Ferne.

Er liebt Venedig, aber ...

Es schließen sich die Reisen seiner Jugend an, die nichts Geringeres ziert als das Leitmotiv des Sich-dort-umbringen-Wollens. Doch immer passt (glücklicherweise) etwas lakonisch nicht. Er will nicht in der Badewanne sterben, denn wer will schon der Deutsche sein, der die Ferienwohnung mit seiner Blutlache ruiniert hat? Und dann gibt es auch noch die Freunde und die Bedienung in der Pizzeria, die ihn, den merkwürdigen Deutschen im Anzug, mehr beachtete, als er dachte. Maier stellt dabei sehr eindrücklich fest, dass Eigen- und Fremdwahrnehmung doch erheblich differieren können. Das bringt ihm neuen Mut, doch die Wege in die Ferne zu suchen.

Viele Menschen leben in Zeiten des Turbo-Kapitalismus ein wahrnehmungsfreies Leben. Anders wäre es – wenn man Freitag-Redakteur Konstantin Nowotny in seinem Essay Verrückt sind die, die noch können folgt – wohl auch nicht mehr auszuhalten. Wenn man vor Corona die Menschen morgens wie Roboter in der U-Bahn stehen sah. Oder sie aggressiv auf der Autobahn erlebte. Maier blickt in die Seele der Gesellschaft, es klingt öfter wie ein Kopfschütteln. Maier liebt Venedig, resümiert aber folgerichtig, dass man sich den Touristenströmen guten Gewissens kaum zugesellen kann. Er entzieht sich der Subjektbeschleunigung, lehnt Autofahrten ab und bestieg zuletzt mit 13 ein Flugzeug. Ob das nicht schade sei, so limitiert zu sein, fragte ihn mal ein Interviewer. Er spielte damit auf Maiers Flugverweigerung an. Doch Maier, diese Kapitalismus-affirmative Frage gewohnt, kontert, dass die Einengung der Möglichkeiten doch gerade das Gute sei. Sich nicht zwischen Tausenden von Optionen entscheiden zu müssen.

Neben der heiteren Beklemmung der Verhältnisse wirkt der Roman auch wie ein Hauch von Sommer und Salz auf den Lippen. Und zeigt uns damit auch das, was uns gerade alles verloren gegangen ist. Denn auch wenn der Urlaub sich häufig als entleertes Zwangsritual gestaltet, so fehlt doch viel von der leichten Weite und Brise des Südens, der Entspannung bei einem Glas Wein und einer Zigarette. Dies leichte Leben, das Maier, wenn er es denn gerade genießen kann, zelebriert.

Die Städte illustriert daneben auch die geistige Freiheit des Autors, sich eben nicht den starren Strukturen des erwachsenen Verhaltens beugen zu müssen, sondern nach einem Weg, seinem ganz eigenen, gesucht zu haben. Gewiss, der Reisende würde das dem nichtreisenden Menschen absprechen. Doch das ist eben der Unterschied. Maier braucht keine Reisepläne und keine Urlaubserinnerungen für seinen Kopf. In aller scheinbaren Unfreiheit hat er sich damit eine große Freiheit in einem normierten Seinssystem bewahrt.

Nach dem Tod seines Lektors und väterlichen Freundes Raimund Fellinger hätte man ein verzagtes Werk erwartet. Doch Maier ist zurück in seiner hessischen Heimat, nach Jahren des Hamburger Exils seiner Frau wegen. Man spürt zwischen den Zeilen die Freude der Rückkehr zu seinen so wichtigen Wurzeln. Er legt einen Roman für die reflektierende schmale breite Masse vor, und Fellinger protegiert ihn eventuell aus dem Himmel. Denn an den lieben Gott glaubt Andreas Maier auch.

Info

Die Städte Andreas Maier Suhrkamp 2021, 190 S., 22 €

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