Er war der schillerndste Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof. Als Rechtskolumnist trieb er die Kritiker ganz hoch auf die Palme, der Rest applaudierte (oder feixte, ganz wie man es nimmt). Es folgte der Ruhestand vom Rechthaben. Radrennen fährt Thomas Fischer aber immer noch.
der Freitag: In unserem Vorgespräch sagten Sie, Sie kämen grad vom Supermarkt. Haben Sie getauscht: BGH-Vorsitz gegen Haushaltsvorsitz?
Thomas Fischer: Ich habe schon immer gerne eingekauft, ich koche gern und bin auch sonst im Haushalt tätig.
Was für ein Handy haben Sie?
Ein iPhone 7.
Zu welcher Tageszeit arbeiten Sie?
In der Regel beginne ich um sieben Uhr morgens und höre in den letzten Jahren nicht mehr nach 20 Uhr auf.
Sie sind wahrscheinlich der einzige Richter, der Autogramme gibt?
Ich kann das nicht beurteilen. Ich tue es jedenfalls.
Haben Sie eine abstrakte oder auch konkrete Bedrohung durch Ihr öffentliches Tun erlebt?
Ja.
Wie sah die aus?
(Überlegt) Sagen wir es so: Ich habe in einer gewissen Weise zu gewissen Themen eine Vielzahl von ekelhaften, beleidigenden oder auch bedrohlichen E-Mails gekriegt, darunter waren auch solche, die unangenehm waren. Mehr gibt es darüber nicht zu sagen.
Heinz Bude spricht vom Dienstleistungsproletariat, Paketzusteller gehören durch Lohndumping, und Akkordarbeit heute dazu. Wie bewerten Sie Ihren alten Beruf als Paketzusteller?
Die Arbeitsbedingungen der Paketzusteller haben sich in den vergangenen 40 Jahren massiv verschlechtert. Diese Entwicklung hat schon in den 1970er Jahren begonnen, zunächst bei den privaten Anbietern. Ich selbst war Arbeiter bei der damaligen Bundespost, viele Kollegen waren noch im Beamtenverhältnis tätig. Ich kann mich erinnern, dass ich etwa 1.100 DM netto verdient habe.
Früher Paketzusteller, später Bundesrichter und Starkolumnist
Prof. Dr. Thomas Fischer wurde 1953 im nordrheinwestfälischen Werdohl geboren. Nach Schulabbruch, Versuchen als Musiker, nachgeholtem Abitur und Kommunenzeit arbeitete er als Paketzusteller bei der Post.
Fischer studierte Jura in Würzburg. Nach verschiedenen Stationen als Richter, in der Sächsischen Justizverwaltung und einem Zweitstudium der Soziologie wurde er 2000 in den Bundesgerichtshof gewählt. Als Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats am BGH wurde er der breiten Öffentlichkeit durch seine kontrovers diskutierten Kolumnen „Fischer im Recht“ auf Zeit Online bekannt. Fischer ging in diesen episch-assoziativ kreierten Ausführungen zu allgemeinen Rechtsfragen (etwa zum Sexualstrafrecht) keinem Streit aus dem Weg. Er ist unter anderem Autor seines als Standardwerk geltenden Kurzkommentars zum Strafgesetzbuch.
Mit der taz („Der Sachverstand ist bei der taz, glaube ich, nicht schwerpunktmäßig gelandet.“) kam es so zum Eklat: Fischer autorisierte ein Interview mit der Journalistin Simone Schmollack nicht und veröffentlichte stattdessen eine von ihm als sehr tendenziös redigiert bezeichnete Version bei meedia.de.
Im Frühjahr 2017 trat er als Richter nach 17 Jahren überraschend in den Vorruhestand und beendete, vielleicht nur vorerst, seine Kolumne bei Zeit Online, die zeitweise über eine Million Leser in der Woche hatte. Fischer ist Vater dreier Söhne und in dritter Ehe verheiratet. Er lebt in Baden-Baden.
Die negativen Folgen der Agenda 2010 stehen in ihrer Blüte, sagen Sie. Wie beurteilen Sie Schröders Leistung als Sozialdemokrat?
Ich habe nicht die geringste Veranlassung, irgendjemandes Leistung als Sozialdemokrat zu beurteilen oder die Leistung der Sozialdemokratie. Diese politische Organisation hat ihren Löffel bereits vor langer Zeit abgegeben.
Wird der einzelne zu einem unternehmerischen Selbst?
Na ja, er bildet es sich jedenfalls ein, oder es wird ihm eingeredet, oder es bleibt ihm nichts anderes übrig ...
Welche davon ist die beste Lösung – unter den schlechten?
Die letzte. Das bedeutet, man hat die Chance, es anzunehmen oder nicht, es zu ändern oder nicht. Die Begrifflichkeit „Unternehmerisches Selbst“ ist ein reiner Euphemismus. Die Welt besteht nicht aus einer unendlichen Vielzahl mächtiger Einzelunternehmer, sondern aus immer weniger mächtigen Unternehmen und immer mehr ohnmächtigen Einzelnen.
Ist Sigmund Gottlieb, Ex-Chef des Bayerischen Rundfunks, der im März in Rente ging, ein komischer Kauz?
Nein, nein. Ich habe ihn mal als „Gott des Heißluftföns“ oder als „schönste Fönfrisur seit Siegfried und Roy“ bezeichnet, aber solche Gags sind natürlich nichts Persönliches. Ich habe nichts gegen Herrn Gottlieb persönlich. Er ist ein meinungsstarker Mensch. Was mich immer etwas gestört hat, war, dass er auch dann eine Meinung vortäuscht, wenn er gar keine hat.
Waren Sie zum Schluss unbeliebt im Senat oder der Cafeteria?
Unbeliebt sind viele, im Senat wie in der Cafeteria. Das sind weiß Gott nicht nur Menschen, die sich öffentlich äußern oder Kritik üben. Unbeliebtheit oder Beliebtheit ist keine Kategorie, in der man denken oder Interviews geben sollte.
Mobbing macht krank.
Ja. Das ist letztlich eine sekundäre Frage. Ich bin innerhalb des BGH auf vielfältige Kritik gestoßen, die überwiegend in merkwürdig persönlicher Weise formuliert wurde. Erstaunlich und bezeichnend: Vielfach wurde diese Kritik gerade auch von Menschen getragen und in skurriler Weise „gelebt“, mit denen ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesprochen und die mich niemals irgendetwas gefragt haben. Aber das ist ganz normal, oder sagen wir: erwartbar. Wer in einer solch hermetischen Organisation sachliche Kritik an Strukturen statt an Personen übt, wird immer wieder als rein persönlich motiviert dargestellt und denunziert.
Was ist die Person Fischer ohne die Funktion?
Das ist eine komplizierte Frage. Was ist die Funktion des Interviewers, ohne dass er Journalist ist? Das Innehaben von Macht fällt weg, wenn die Funktion endet. Wenn die Person sich darauf beschränken würde, Macht zu haben, dann wäre das traurig. Es gibt Menschen, die darunter sehr leiden und nicht wissen, was sie tun sollen. Letztlich ist das eine sehr alberne Sichtweise auf sich selbst und die Welt. Denn die Dinge und Bedeutungen sind vergänglich, und Privilegien hängen mit der Funktion zusammen, das ist klar.
Was ist die Position des Vorsitzenden des 2. Strafsenats ohne die Person?
Man braucht eine neue Person Richter. Richter sind Menschen und keine Rechtsproduktionsautomaten. Irgendjemand wird meine Nachfolge antreten und wird den Job ganz gewiss anders machen als ich, wird ihn aber auch anders machen als alle meine Vorgänger.
Beschreiben Sie mir bitte Ihren Abschied in Karlsruhe. Hatten Sie eine Pappkiste dabei?
Ich habe einige Bilder und Motorrad-Modelle aus meinem Dienstzimmer abgeholt. Der Abschied war gänzlich unspektakulär.
Wieso haben Sie früher aufgehört?
Jeder öffentlich Bedienstete hat die Möglichkeit, früher zu gehen, wenn er dafür Abstriche an seiner Pension in Kauf nimmt. Nun habe ich mit 64 aufgehört. Ich hatte den Eindruck, dass es reicht. Die konkreten Gründe dafür gehen nur mich persönlich, meine Familie und Freunde an.
Aus dem trockenen Kosmos der Jurisprudenz hat Ferdinand von Schirach etwas geschafft, wovon Sie schon seit frühen Tagen träumen: ein erfolgreicher Schriftsteller zu sein. Wurmt Sie das?
Weder stimmt das eine noch das andere, noch wurmt es mich. Schirach ist ein wirtschaftlich erfolgreicher Schriftsteller. Das ist kein qualitatives Argument. Mein Traum ist nicht, Leitkolumnist der Bild-Zeitung zu sein.
Bei welcher Kolumne lagen Sie einmal richtig falsch?
Spontan würde ich sagen: bei keiner. Ob es inhaltlich etwas gibt, was ich heute anders schreiben würde, weiß ich nicht. Es sind insgesamt deutlich mehr als 1.000 Normseiten Text mit weit mehr als 3,2 Millionen Zeichen, da habe ich nicht mehr alles im Sinn.
Alle dachten, die Kolumne geht jetzt erst recht weiter. Warum ist Schluss?
Die Verbindung zwischen dem Ende meiner Richtertätigkeit und dem Ende meiner Kolumne ist eher zufällig. Den typischen „Fischer-im-Recht“-Sound muss man auch nicht so lang weitertreiben, bis die Leute sagen: Früher war es mal besser. Ich will jetzt mal Pause machen und danach weitersehen.
Wie beurteilen Sie den Fall des Footballspielers O. J. Simpson, der des Mordes an seiner Exfrau angeklagt, dann freigelassen wurde?
Ich kenne den Fall nur über die Medien. Die Frage ist, wie viel Gerechtigkeit und Legitimität produziert ein System wie das der US-amerikanischen Jury-Prozesse? Bei uns dominiert die Vorstellung eines Beamtenrichters: einer qualifizierten, wissenschaftlich gebildeten, neutralen Fachgerichtsbarkeit. Wenn in den USA Fälle vor der Grand Jury zu verhandeln sind, dominiert das Prinzip der Demokratie, der Durchschnittsmensch als Repräsentant einer Gesamtheit entscheidet – ohne Begründung. Die Jury sagt schuldig oder nicht schuldig. Das ist im Einzelfall eine Provokation.
Warum wird der Rechtsstaat mit Fällen wie dem von Uli Hoeneß oder Bernie Ecclestone scheinbar nicht routiniert fertig?
Der Fall Hoeneß scheint mir nicht spektakulär. Der Täter hat eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung verbüßt. Zu Ecclestone: Die Strafjustiz hat große Probleme mit komplizierten Wirtschaftsstrafverfahren. Das hat in der Regel nichts mit den Personen der Beschuldigten zu tun. Strafjustiz ist aber immer unterschichtenorientiert. Es geht stets vor allem um die „einfach“ zu verfolgenden Personen, die einfach strukturierten Straftaten. Es geht um die „Dummköpfe“, die „Verlierer“, die „Outlaws“. Strafrecht wird umso schwieriger, je mehr man sich den wirklichen Macht- und Entscheidungsstrukturen der Gesellschaft nähert.
Warum erleben wir eine Moralisierung des Rechts, der kollektiven Empörung?
Kollektive Empörung hat es schon immer gegeben. Die Moralisierung des Rechts hat noch andere Bezüge. Die Institutionen der informellen Kontrolle wie Familie, Dorf- oder Religionsgemeinschaft und Verein haben immer weniger Bedeutung. Vorgaben, was man zu tun hat, gibt es immer weniger: Dass man sonntags in die Kirche geht, dass man seinen Hut zu ziehen hat, es sind lauter veralberte Erinnerungen aus einer angeblich längst vergessenen Zeit, die aber tatsächlich erst 50 Jahre zurückliegt. Anders gesagt: Die ganze Verantwortung für die Person, das ist die entscheidende Botschaft der Globalisierung oder der Agenda 2010, trifft den einzelnen Menschen. Ganz allein.
Sie haben vor zwölf Jahren mehrere Bypässe bekommen – hat sich damals Ihr Blick auf den Tod und das Sterben geändert?
Klar, natürlich. Wenn man in einer Extremsituation ist, ganz nah am Sterben, einen oder zwei Herzstillstände erlebt, schaut man anders auf die Welt als vorher. Man vergisst es dann aber auch wieder und gewöhnt sich an die Normalität des Lebens; so ist der Mensch zum Glück.
Weitet es den Blick, verändert es das Leben im Alltag?
Das funktioniert nicht so unmittelbar und reflektiert. Ich war schon nach drei Monaten wieder im Dienst. Das Einzige, was interessierte, war, wie viele Akten ich wieder bearbeiten konnte. Und nach 15 Monaten bin ich wieder den Radmarathon „Rund um den Bodensee“ gefahren. Das war wichtiger als der Rest.
Wie halten Sie es generell mit Sterbehilfe?
Ich bin ein Vertreter einer liberalen Regelung von sogenannter Sterbehilfe und auch ein Gegner der derzeitigen Regelung der „Tötung auf Verlangen“. Die heute bestehenden strafrechtlichen Grenzen sind willkürlich und in vielerlei Sinn ungerecht. Ein Rückzug des Strafrechts aus diesem Bereich könnte nur gut sein.
Der Schauspieler Dieter Mann sagt: Ich lasse mir ungern erklären, wie ich gelebt habe.
Ich schließe mich dem Zitat an. Die Fischer-Autobiografie steht noch bevor. Da wird sich das dann vielleicht erschließen.
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