Couchsurfer können auf fremden Sofas kostenlos übernachten und Leute kennenlernen. Oder sie laden andere Couchsurfer zu sich ein. Die 2003 gegründete Internetcommunity versteht sich als „Gastfreundschaftsnetzwerk“. Im Juni 2015 zählte couchsurfing.com nach eigenen Angaben 10 Millionen Mitglieder. 2011 wurde aus dem gemeinnützigen Verein, der vor allem von Freiwilligen lebte, ein kommerzielles Silicon Valley- Unternehmen.
der Freitag: Sie waren auf Reisen im Iran und in Russland. Worin unterscheiden sich diese Länder beim Couchsurfen?
Stephan Orth: Es sind zwei ganz verschiedene Welten, in denen die Menschen ganz verschiedene Probleme haben. Im Iran war es spannend, den Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Leben kennenzulernen. In der &
den Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Leben kennenzulernen. In der Öffentlichkeit herrscht eine Maskerade, in der man sich an die strengen Regeln hält. Zuhause bricht man die ganzen Regeln. In Russland ist die öffentliche Welt unfreundlicher, im Gegensatz zur privaten Welt, in der es sehr herzlich zugeht.Fanden Sie die in Reiseführern gepriesene Gastfreundschaftauthentisch?Ja. Oft bestehen auch noch Kontakte bis heute. Aus dem Iran hatte ich sogar Gegenbesuch auf meiner Couch.Sind die Deutschen dagegen nicht gastfreundlich genug?Da ist hierzulande leider über die Jahrhunderte etwas verlorengegangen, kaum jemand lädt mal einen Fremden nach Hause zum Tee ein. Allerdings gibt es so viel touristische Infrastruktur bei uns, dass diese Art von Gastfreundschaft auch gar nicht in der Form nötig ist.Wie gehen Sie mit Durchfall um?Ich habe großes Glück, einen stabilen Magen zu haben. Ich esse meist alles, was mir vorgesetzt wird, bin aber natürlich mit Leitungswasser, ungeschältem Obst oder Drinks mit Eiswürfeln vorsichtig.Und wie waren die Toiletten auswärts?In vielen Ländern findet man nicht das vor, was wir unter Toiletten verstehen. Im ländlichen China hockt man manchmal noch nebeneinander über einer Rinne, im Iran fehlte in öffentlichen Klos meistens das Papier, nur Wasser steht zum Reinigen bereit.Sie verschweigen nicht, dass das immer wiederkehrende Kennenlernen auch monoton werden kann. Was ist der Ausweg?Nach zehn Gastgebern in Folge gönne ich mir auch mal zwei Tage im Hotel. Immer unter Menschen zu sein strengt auf Dauer sehr an. Man kann sich kaum zurückziehen.Trat auch mal ein existentieller Reisekoller ein?Selten. Generell empfinde ich fast nie Heimweh, was vielen Krisen vorbeugt. Aber Taxifahrer, die mich abzocken wollen, habe ich inzwischen so oft erlebt, dass ich da keinen Spaß mehr verstehe. Von mir kriegen die selbst bei Prügel-Drohungen oder der Ankündigung, die Polizei zu verständigen, nicht mehr als den angemessenen Preis.Placeholder infobox-1Wofür brauchen Sie mobiles Internet während der Reisen?Es ist absolut wesentlich! So finde ich meine nächsten Gastgeber. Ich kaufe immer sofort eine einheimische Sim-Karte und nutze Übersetzungsprogramme und Landkartentools. Nichtsdestotrotz trauere ich den analogen Zeiten manchmal nach.In welcher Form haben Sie sich Dialoge und Erlebnisse notiert?In allen Varianten: Notizblock, im Handy bei voller Fahrt im Auto, Tonaufnahmen und viele Fotos, um später Orte beschreiben zu können. Manchmal verschwinde ich kurz auf die Toilette, um mir Dialoge zu notieren, damit die dann später möglichst wortgetreu im Buch landen.Wie sind dann aus den Notizen richtige Bücher geworden?Ich schreibe die Bücher direkt nach der Reise. Ich miete mir irgendwo ein Appartment und ziehe mich raus aus dem Alltag. Das Iran-Buch ist auf Paros und das Russland-Buch auf La Gomera entstanden.Der Untertitel Ihres Russland-Buchs klingt kokett: „Wie ich fast zum Putinversteher wurde.“ Und? Verstehen Sie ihn nun?Ich bin kein Putinfan. Ich wollte einfach begreifen, was seine Popularität im Land ausmacht und habe viele politische und private Gespräche geführt. Ein wesentlicher Grund, dass viele Russen Putinfans sind, ist der Stolz, den er ihnen nach den chaotischen Neunzigerjahren wiedergegeben hat. Viele Leute denken, dass er nur das Beste für das Land will. Er trinkt nicht und ist pragmatisch. Weit verbreitet ist auch die Meinung, dass ein solch großes Land einen starken Herrscher braucht.Haben Sie Sorge, in den Iran oder nach Russland zurück zu kehren?In den Iran fahre ich tatsächlich nicht mehr. In dem Buch habe ich zu viele verbotene Dinge beschrieben. Ich habe einige Artikel darüber auf Persisch gesehen, die ziemlich kritisch sind. Ein paar Freunde von mir, die sich mit dem Geheimdienst gut auskennen, haben mich darin bestärkt, das Land besser zu meiden. Aber das war mir im Grunde vor der Reise schon bewusst.Peter Handke sagte mal in einem Dokumentarfilm, ihn öde die „scheiß durchkalkulierte technische Welt“ an. Der Publizist Roger Willemsen bezeichnete Flughäfen als „Nicht-Orte“. Ist Couchsurfen die letzte Bastion echten Reisens?Die Tourismusbranche hat reagiert, in dem sie auf alles das Wort „authentisch“ schreibt, um Kunden zu bekommen, da alle auf einmal authentisch reisen wollen. Darüber lache ich mich tot. Urlauber, die nur Sehenswürdigkeiten abgrasen und kaum Kontakt zu Einheimischen haben, die nicht im Tourismus tätig sind, leben in einer Parallelwelt.Sehen Sie sich mittlerweile als Sofaexperten?Nein, man bekommt oft keine Couch angeboten, sondern Betten, Matratzen oder Teppiche.Was haben Sie über Gefahr und Vertrauen gelernt?Ich bin schon ein bisschen Experte für Menschen geworden. Man lernt, Situationen und Menschen schnell und gut einzuschätzen und schärft seine Sinne. Gibt es eine Bedrohung, eine Gefahr? Die meisten meinen es aber gut mit einem.Können Sie überhaupt noch „normal“ reisen?Bei all-inclusive würde ich mich nach zwei Tagen zu Tode fressen und mich fürchterlich langweilen. Eine Woche Strandurlaub in Thailand oder auf den Philippinen kann ich mit ein paar guten Büchern aber gut aushalten.Der Psychoanalytiker Hermann Argelander beschreibt in einer Fallstudie einen Mann, der nur im Flugzeug wirklich frei sein kann. Worin besteht für Sie der Sinn des Reisens?Es ist mehr so eine starke Komplexitätsreduktion. Es geht um Essen, Schlafen, Transport und gesundbleiben. Zuhause gibt es viel mehr Aufgaben, die man auf die Reihe bekommen muss. Daher ist es schon eine gewisse Flucht in eine Situation, die auf Wesentliches reduziert ist.Wie ist es hinterher nach Hause zu kommen?Nicht schlimm, ich bin gerne in Hamburg. Aber nur an einem Ort zu leben, wird mir dann doch schnell langweilig. Letztes Jahr war ich weniger als die Hälfte der Tage zuhause.Wie hoch sind im Moment die Verkaufszahlen Ihrer Bücher?Das Iranbuch liegt gerade bei mehr als 150.000 Exemplaren, da kommt das Russlandbuch bislang nicht heran.Diese Zahlen sind enorm.Der große Erfolg von Couchsurfing im Iran lebte damals vom Timing der Veröffentlichung, von Nervenkitzel und Verbotenem.Beide Bücher sind dann auch in verschiedenen Sprachen herausgekommen.Ja, und es folgen noch weitere Übersetzungen. Das Iranbuch erscheint im Mai auf Englisch, und der Verlag plant dazu große Kampagnen in Nordamerika, Großbritannien und Australien. Ich habe es keine Sekunde bereut, meinen Job beim Spiegel gekündigt zu haben, obwohl ich mich dort immer wohlgefühlt habe.Sie wurden diesen März auf der Internationalen Tourismusbörse in der Kategorie: Länderwissen –WM-Land Russland preisgekrönt.Ich freue mich total über diesen Preis. Insbesondere darüber, dass die Jury das authentische meiner Reisen in der Begründung hervorhebt und meinen Kontakt zu den Einheimischen würdigt.Nach solch einem Pensum: Was kann da noch kommen?Im Herbst wird erstmal ein Bildband von mir über den Kaukasus bei National Geographic erscheinen. Und 2019 kommt dann ein drittes Couchsurfingbuch. Das Land kann ich aber noch nicht verraten!
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