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Musik Der Publizist Roger Willemsen starb 2016 mit nur 60 Jahren. Nun erscheinen teils unveröffentlichte Text über Willemsens geheime Leidenschaft: Musik

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Roger Willemsen (hier im Jahr 2010). Neben der Sprache war Musik sein Leben
Roger Willemsen (hier im Jahr 2010). Neben der Sprache war Musik sein Leben

Foto: Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Da liegen sie, so viele, so rot, ganze 512 Seiten. Er hat wieder eins geschrieben, denkt man. Auf der Buchmesse, am Stand des S. Fischer Verlages, hat sich an der Präsentation nichts geändert. Zu früher. Zu was? Es keimt so eine kleine, irreale Hoffnung auf. Ach, er lebt, alles, was 2015 auf 2016 geschah, war nur ein böser, böser Traum. Sein Rückzug aus der Öffentlichkeit aufgrund einer Krebsdiagnose, kurz nach seinem sechzigsten Geburtstag, und dann die unerwartete Todesnachricht im Februar.

Es erwischte den Kulturbetrieb kalt. Seit Jahrzehnten bestimmte der kulturelle Generalist Willemsen die Debatten mit. Zuletzt mit seinem, was auch sonst, Bestseller Das Hohe Haus. Ein Jahr saß er – irgendwann mit Sitzkissen – auf der Tribüne des Deutschen Bundestages. Während sein Rückzug aus der Öffentlichkeit als Zeichen für Therapie und hoffentlich baldige Rekonvalenszenz interpretiert wurde, wusste er, er würde sterben. Er streifte durch sein Haus, ordnete seinen Nachlass. Und bat Menschen, die bei seinem geplanten Geburtstagsfest reden sollten, nun auf seiner Trauerfeier zu sprechen.

Kann Willemsen vergessen werden? Es kann zumindest der Gedanke aufkommen, als der Verlag berichtet, die in der Vorschau gezeigten Werbeplakate zum neuen Buch seien nicht in den Druck gegangen; zu wenig Nachfrage.

Ein Haus, eine Musiksammlung

Was bleibt von einem Autor, der nach eigenem Bekunden so lange schrieb, wie er konnte? Für den Schreiben bedeutete, Genauigkeit herzustellen. Die Schlüssel hierzu liegen in zwei Städten: Hamburg und Frankfurt am Main. Direkt angrenzend an die Hansestadt liegt sein Wohnhaus, welches heute seine gleichnamige Stiftung beherbergt. Geleitet wird diese von seiner langjährigen Büroleiterin Julia Wittgens. Die Stiftung vergibt jährlich unter Mithilfe des Mare-Verlags Stipendien an Künstler, welche in Willemsens ehemaligen Wohnhaus ihrer Profession nachkommen können. Eben dieses Wohnhaus in Wentdorf, einen Steinwurf – noch – vom Rowohlt-Verlag in Reinbek entfernt, war sein Ziel, der Stempel für seine Briefe schon fertig. Er sollte nur noch knapp einen Monat in diesen Räumen erleben; und er starb dort. Viele von ihm vererbte Gegenstände fanden nun wieder Einzug in das Haus, auch seine Musiksammlung.

Musik war, neben der Sprache, sein Leben. Er war leidenschaftlicher Genießer der Akustik. Willemsen erkundete die Musikwelt, wie seine Enden der Welt. Auch wenn die Quoten fielen, er hielt an seinem Pianisten bei Willemsens Woche, Michael Petrucciani, fest.

Die Musik, sie war die Klammer, auch für seine letzte Feier; in der Kurt-Schumacher-Halle auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Selbst geplant hatte er das Arrangement aus Reden und Musikstücken. Die Geigerin Isabelle Faust spielte ein schier unendliches Stück auf ihrer Geige; mit ihr hatte er wenige Jahre vor seinem Tod noch ein Programm aufgelegt: In aller Stille.

Ordner: Musik

In Frankfurt am Main liegt der zweite Schlüssel zum neu erschienenen Buch: Insa Wilke ist seine Nachlassverwalterin und barg auf Willemsens Rechner den schlicht mit „Musik“ betitelten Ordner. Nach ausgiebiger Sichtung und klarer Struktur, welche Texte für das nun vorliegende Buch verwertbar sind, entstand ein 500 Seiten starkes Werk über Willemsens Wahrnehmung von Musik. Der imperative Titel „Musik!“ impliziert den Stellenwert, die Musik zeitlebens für ihn einnahm. Er legt wie ein Archäologe Musikwelten frei, die den meisten verborgen geblieben wären. Es ist ein beeindruckender Nachlass an Texten, zum Teil unveröffentlicht. Wahre Schätze, frohlockt der Willemsen-Kenner.

Ein Leitmedium hingegen kritisierte, der typische Sound sei zwar in den einzelnen Texten vorhanden, durchzöge aber nicht das Buch. Das stimmt sogar, es fällt auf, was auch sonst? Auch dass das Nachwort besser das Vorwort gewesen wäre. Leser gehören an die Hand genommen bei postumer Veröffentlichung. Bei aller Freude über dieses Stück mehr an textlichem Willemsen, bricht auch beim Blättern immer wieder Trauer durch.

Denn Willemsen ist tot, für immer verstummt.

Musik! Roger Willemsen; Insa Wilke (Hg.), S. Fischer, 512 S., 24 €

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