Roman „Die Heimat“ von Andreas Maier: Eine ewige Fiktion

Literatur Für Andreas Maier ist Heimat seit jeher eine Fiktion. Der neunte Band seines grandiosen Romanprojekts „Ortsumgehung“ kreist um Schuld
Ausgabe 12/2023
Für Autor Andreas Maier ist die Wetterau Heimat
Für Autor Andreas Maier ist die Wetterau Heimat

Foto: Imago/Westlight

Heimat ist für die meisten von uns so selbstverständlich geworden, dass die Menschen unter dauerhaftem Fernweh leiden. Selbst wenn in tausend Kilometern Entfernung ein Krieg tobt, der Badeurlaub ist heilig. Ferien sind, wie die alltägliche Aggression, eine Modedroge des Kapitalismus.

Vor zwei Jahren legte Andreas Maier mit dem fulminanten Roman Die Städteein Traktat über die Entrücktheit des Fernwehs in Relation zur Bewusstwerdung der eigenen Vergänglichkeit vor. Nun folgt Band neun seines monumentalen Projekts Ortsumgehung,das vor 13 Jahren begann. Sein Titel: Die Heimat.

Was ist Heimat? Ein Gefühl, sonst schwer definierbar? Denn nur weil ein Mensch an einem bestimmten Ort geboren ist, heißt das für viele noch lange nicht, dort Heimat zu empfinden. Der Autor Andreas Altmann zum Beispiel würde vehement verneinen, seine Herkunft aus dem beschaulichen Altötting als „Heimat“ zu bezeichnen. Der große, 2018 verstorbene Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino attestierte in seiner Heidelberger Poetikdozentur der Heimat eine „innerliche Unfassbarkeit“, was die wohl stärkste Empfindung des Menschen sei. Es dauere oft ein halbes Leben, bis man merke, dass dort, wo man nicht mehr loskommt, Heimat sei. Eduard Mörike erfand ein Fantasiewort für das, was wir als Heimat erspüren: „Orplid“.

Andreas Maier hat dagegen eine beneidenswerte Gabe: Er fühlt die Heimat, er kann sie geografisch im Innen und Außen verorten. Neben seinem Glauben an Gott ist es die Wetterau (gesprochen Wetter-au).

Wenn man jemandem außerhalb Hessens erklären soll, was die Wetterau ist, geschieht das per Ortsangabe, irgendwo nördlich von Frankfurt, was schnell nach schwer beschreiblichem Unort klingt. Was sollte man dem Fremden auch sonst sagen? Dass man dort herkommt? Dass man dort wohnt? Dass man sich dort wohlfühlt? In Die Städte lotete Maier seine ganz persönlichen Enden der Welt aus. Er, der nicht gerne reist, noch weniger gerne urlaubt und sich eher in den inneren Dialog mit sich und seinen Dämonen begibt.

Heimat ist die Erkenntnis der Wahllosigkeit

Und genau so kreist Maier wieder einmal durch seine Heimat, die Wetterau. Die Beschreibungen von Ereignissen (Elvis Presley wohnte nur einen Steinwurf von Maiers Haus entfernt), alltäglichen Beobachtungen und Orten sind dabei der indirekte Beweis, dass man auch damit Heimat nicht zu fassen kriegt. Sie lässt es nicht zu und windet sich. Und doch ergibt sich gerade hieraus die nachfühlbare Heimat eines Individuums. Das ist dann öfter ein Zuhause in der Peripherie, das nicht überfordert.

Der Mensch muss sich in der Wetterau nicht allzu aktiv zu den Dingen verhalten, was Segen und Fluch zugleich ist, denn eine Aufarbeitung der Vergangenheit findet nicht statt. Was war hier früher? Wer hat Schuld auf sich geladen?

Und auch: Wie wollen wir überhaupt leben? Die große Transformation ist woanders. Die scheinbaren und mannigfaltigen Optionen des Lebens lichten sich rapide, wenn man Schritt für Schritt in konzentrischen Kreisen aus den Großstädten herausschreitet. Das Leben reduziert sich immer mehr, bis zu einer Art von existenzieller Singularität. Eine Kirche, eine Bushaltestelle, ein Buchladen, eine Meinung. Wer weg will, dem wird Hochmut attestiert und eine Rückkehr aus Gründen des Scheiterns gewünscht.

Vielleicht liest sich auch das aus Maiers Erlebnissen, aus der flachen Landschaft nördlich des kosmopolitischen Frankfurt: Heimat ist die Erkenntnis der Wahllosigkeit. Man kommt da her, wo man eben herkommt. Egal, wie sehr man sich bemüht, verändert und vom Urpunkt seines eigenen Welteintritts auch wegzieht: Im Kern bleibt man der, woher man kam.

Die Heimat Andreas Maier Suhrkamp 2023, 245 S., 22 € (Leseprobe)

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