"Sie erwarten jetzt keine Koketterie?"

Interview Verena Lueken schrieb einen Bestseller über New York. Ihr neuer Roman "Anderswo" steht dem in nichts nach

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Verena Lueken
Verena Lueken

Foto: Helmut Fricke

Es ist warm, noch Hochsommer, als wir uns am 10. August im gediegenen Café Siesmayer in Frankfurt am Main treffen. Verena Lueken, seit fast 30 Jahren Journalistin bei der FAZ, wird mit Vornamen begrüßt. Wir nehmen auf der Terasse platz, die direkt an den malerischen Palmengarten grenzt. Das traumhafte Ambiente wird nur durch Wespen gestört. Aber auch dafür gibt es in dem Café Abhilfe: Auf jedem Tisch steht brennendes Kaffeepulver. Die Wespen hält es so lala ab, hingegen riecht mein Lesexemplar von Verena Luekens neuem Roman "Anderswo" immer noch nach brennendem Kaffeepulver.

Was ist Heimat für Sie?

Heimat ist dort, wo ich in Ruhe, unbehelligt tun kann, was ich will.

Ist das nicht eigentlich überall?

Nein, das ist es nicht. In New York kann man ankommen und die Stadt erwartet nichts von einem. Man muss sie nicht bewundern oder schön finden. In Rom oder Paris ist das anders. Sie haben den Anspruch, erschöpfend wahrgenommen zu werden. In New York empfinde ich Autonomie. Auch wenn sich das verändert hat, seit ich zum ersten Mal dort war, in den späten Achtzigern. Da wollte niemand unbedingt nach New York.

Wie schnell sich das ändert!

Ja. Vor allem ist heute alles irrsinnig teuer und die Leute leben am Limit, um über die Runden zu kommen.

Zur Person

Verena Lueken, geboren 1955, lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Seit 1989 arbeitet sie für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Viele Jahre war sie Kulturkorrespondentin der FAZ in New York. 2005 erschien ihr Dauerseller "Gebrauchsanweisung für New York". 2015 erschien ihr Romandebüt "Alles was zählt". Nun legt sie mit "Anderswo" ihren zweiten Roman vor

Sie haben einen Bestseller über New York geschrieben. Ihre Gebrauchsanweisung für den Big Apple ist seit 2005 erfolgreich.

2005 kam die erste Ausgabe heraus. Die habe ich inzwischen zweimal komplett überarbeitet habe. Aktuell gibt es das Buch in einer Sonderedition in Leinen, sehr schön. In der normalen Ausgabe kommt es aber auch wieder. Komplett überarbeitet heißt: Alles aktualisiert. Einige Kapitel fielen heraus, dafür kamen neue Kapitel über Trump zum Beispiel und den Protest herein. In den ersten beiden Ausgaben schien mir das nicht so wichtig. Die New Yorker sind sehr liberal. Aber Trump ist eben auch New Yorker. Das schmerzt sie besonders und ist ihnen auch peinlich.
Deshalb betrachten sie ihn auch als ihren persönlichen Feind. Und daraus ergibt sich die Frage: Welches Verhältnis haben die New Yorker zum Protest? Haben sie auch früher protestiert? Wogegen, wofür und gegen wen? Eigentlich haben sie dafür gar keine Zeit. Sie protestieren aber schon sehr lange gegen erstaunlich vieles. Auch die ökologische Seite dieser Stadt findet nun Platz im Buch. Es stellt sich heraus, dass dieses Übereinanderstapeln von Menschen auf kleiner Fläche wie in den New Yorker Hochhäusern viel schonender für die Natur ist, als einzeln auf dem Land zu wohnen. Die New Yorker fahren mit der Subway, haben kein Auto, keine Waschmaschine – das macht ihren ökologischen Fußabdruck deutlich besser. New York ist also in gewisser Weise eine grüne Stadt, was man ja nicht glauben möchte, wenn man da ist.

Das Buch wird zweimal im Jahr nachgedruckt?

Ja, ich glaube, so ungefähr. Alles in allem müsste es jetzt etwa die zwanzigste Auflage sein.

Warum schreiben Sie so gute Bücher?

So gute Bücher? (lacht) Weil ich viel lese, immer viel gelesen habe. Sie erwarten jetzt keine Koketterie?

Nein, ich bin ein weißes Blatt.

Wie komme ich zu der Art zu schreiben? Ich glaube, durch das Lesen und die Fragen, die sich mir durch das Lesen stellen. Und durch den Versuch zu vermeiden, was ich an anderen Büchern nicht mag und zu tun, was ich an anderen Büchern mag.

Was mögen Sie, was mögen Sie nicht?

Ich mag keine Geschwätzigkeit, kein Lostreten möglicherweise brillanter Wortlawinen. Meistens machen das übrigens Männer. Ich kann aber Brillanz durchaus als kreatives Moment bewundern. Mich interessiert Präzision mehr als Opulenz. Schreiben ist ein Übersetzungsprozess von Erfahrung und Vorstellung in Sprache. Ich finde es wichtig, sich klarzumachen, dass Sprache auf Vereinbarungen beruht. Das Glas hier auf dem Tisch ist ein Glas, weil wir uns darauf geeinigt haben, es so zu nennen. Man kann es also genauer beschreiben. Seine Form, sein Gewicht, ob etwas drin ist oder nicht und so weiter. Es ist die Präzision der Sprache, die bestimmt, ob etwas wahrhaftig ist. Und Fiktion kann natürlich wahrhaftig sein.

Es gibt im Buch eine lange Liste von Literaturempfehlungen, die aber nur Romane über New York enthalten. Warum?

Es gibt so unendlich viele Reiseführer über New York. Da kann man nicht viel falschmachen. Dann habe ich mich gefragt, welche Romane mir etwas über New York erzählt haben, welche eine Leidenschaft und Liebe für diese Stadt vermitteln.

Sie leben wieder in Frankfurt, wie halten Sie das aus?

Am Anfang war es nicht so prickelnd. Aber ich bin noch viel in New York und an vielen anderen spannenden Orten. Ich bin nicht unglücklich in Frankfurt, und es ist eine gute Stadt zum Arbeiten. Es gibt keinen großen Schmerz.

Wie oft sind Sie noch in New York?

In der Regel dreimal im Jahr.

Was hat sich geändert?

Ich werde nie wieder als Touristin in New York sein. Das ist eine Heimat, die man nicht verliert. Ich fühle mich in New York viel mehr zuhause als in Frankfurt. Für mich ist es aber nicht wichtig, mich dort, wo ich bin, auch zuhause zu fühlen.

"Selbst wohlhabenden Menschen ist das zu teuer"

Wie lebt es sich als normal verdienender Mensch in New York?

Ich kenne kaum noch jemanden, der in Manhattan wohnt. Alle wohnen inzwischen in Brooklyn. Ausgenommen die Leute, die schlau genug waren in Manhattan Eigentum zu kaufen, als das noch erschwinglich war. Oder alte New Yorker, die in mietpreisgebundenen Apartments wohnen. Die nächste Generation hat das Glück nicht mehr. Eine Freundin hat eine mietpreisgebundene Wohnung für 2700 Dollar. Die Nachbarwohnung kostet 12.000 Dollar – im Monat! In solchen Wohnungen leben dann häufig entsandte Arbeitnehmer, Diplomaten. Denn selbst wohlhabenden Menschen ist das zu teuer. Dabei ist es ein ganz normales Mietshaus.

Sie haben aktuell Ihren zweiten Roman „Anderswo“ vorgelegt. Wie kamen Sie zum Romangenre?

Für die Dinge, die man sagen möchte, gibt es unterschiedliche Genres. Wie Journalisten auch verschiedene Artikelformen zur Verfügung stehen. Mein Verhältnis zur Welt vermittelt sich über die Sprache. Bestimmte komplexe Erfahrungen und Überlegungen kann der Journalismus nicht abbilden, da sie nach einer anderen Sprache und Form verlangen. Das ist dann die Literatur.

Sind Ihre Romane autobiographisch?

Mein erster Roman „Alles zählt“ ist zum großen Teil autobiographisch. Wozu führt es aber, wenn man das dazu sagt oder herausstellt? Es führt dazu, dass der Leser mit außerliterarischen Kriterien an das Buch herangeht. Das möchte ich aber möglichst vermeiden, weil ich kein Bedürfnis habe, über außerliterarische Fragen, die mein Leben angehen, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Auch Ratschläge zu geben oder Erfahrungen auszutauschen ist nicht das, was ich mit diesem Buch will. Die zentralen Fragen dort sind: Was bedeutet Literatur im Augenblick der Lebensgefahr? Wie übersetze ich eine Schmerzerfahrung in Sprache? Gibt es überhaupt eine Sprache für den Schmerz? Einer Erfahrung durch Sprache eine Form zu geben, darum geht es, nicht um eine Mitteilung oder um Bekenntnisse, das ist ein großer Unterschied.

Peter Härtling lehnte es ab, auf Lesungen über autobiographische Tendenzen Auskunft zu geben. Können die Leser nicht aushalten, dass etwas im Dunkeln bleibt?

Es gibt immer eine boulevardeske Neugier auf den Autor, die ich nicht schlimm finde. Schwierig wird es, wenn dadurch die Bücher in den Hintergrund rücken.

Die Fragestellung in Ihrem neuen Roman „Anderswo" ist, ob man Vergangenheit im Empfinden revidieren kann.

Meiner Figur gelingt es in gewisser Weise, die Prägungen aus der Kindheit mit späterer Lebenserfahrungen zu überschreiben. Mein literarisches Ziel war es, eine Figur zu schaffen, die diesen Versuch überhaupt startet. Eine Frau, die die Liebe ihres Lebens nicht heiratet, die ihren unbekannten Vater nicht findet und keinen Kontakt zur Mutter hat und nur losen zu ihrem Bruder. Kann eine Frau ihre eigene Geschichte schreiben, ohne ein familiäres Umfeld? Kann sie Autorin des eigenen Lebens sein? Das ist die Frage.

"Alles klang verkehrt"

Warum hat Ihre Protagonistin keinen Namen?

Im ersten Roman war sie wirklich namenlos, in diesem hat sie wenigstens das Initial B. Viele Namen habe ich ausprobiert, aber keiner erschien mir passend. Alles klang verkehrt. Namen sind sehr schwierig für mich. Es gibt eine Erzählhaltung, die im Englischen „third person intimate“ heißt. Eine Erzählung in der dritten Person, die nicht auktorial ist. Bei meinen beiden Romanen bezeichnen Rezensenten die Protagonistin gern als Ich-Erzählerin. Das ist aber nicht korrekt. Es gibt gar kein „Ich“ in diesen beiden Büchern. Doch offenbar erzeugen sie ein Gefühl, das die Nähe einer Ich-Erzählung suggeriert.

Ist ein Friedenschließen mit der Vergangenheit notwendig?

Prinzipiell ist Friedenschließen ja immer gut. Aber man sollte nicht so sehr zurückschauen. Ich sehe vieles gelassener.

Wie wird man gelassen?

Man soll sich selber nicht so wahnsinnig wichtig nehmen.

Sind Sie gelassen?

Gelassen geworden.

Macht das glücklich?

Ja, durchaus. Das bedeutet ja nicht, emotionslos an der Welt zu partizipieren. Aber gewisse Aufgeregtheiten und Eitelkeiten gehen an einem vorbei. Vor allen Dingen haben andere Menschen weniger Macht über einen.

Kann Krankheit das forcieren?

Krankheit kann das in beide Richtungen treiben. Entweder man wird gelassener oder man wird sehr aufgeregt.

Wo und wie schreiben Sie?

Ich schreibe zuhause, auf der Empore eines Treppenabsatzes in unserer Wohnung. Ich schreibe morgens und abends, vor und nach der Arbeit in der Redaktion. Ich schreibe aber nicht immer.

Schreiben Sie gern?

Ja klar, wozu sollte ich das sonst tun? Ich habe einen Beruf und müsste ich mich nicht quälen.

"Wer glänzen will, muss selbst dafür sorgen"

Sie sind seit fast dreißig Jahren bei der FAZ tätig. Vergisst man das Glück für einen solchen Arbeitgeber tätig sein zu dürfen?

Manchmal vergisst man es im Alltag, manchmal aber wird es einem auch sehr bewusst. Wenn ein Artikel, der einem wichtig ist, groß aufgemacht wird, man viel Platz hat, ein schönes Bild dazu, das ist schon sehr schön. Aber es wäre doch fürchterlich, wenn man ständig durch die Redaktion schwebte in dem Gefühl, der Arbeitgeber sei so bedeutend. Man sollte seine Arbeit gut machen und nicht glauben, der Glanz der Institution würde auf einen abfärben. Wer glänzen will, muss dafür schon selbst sorgen.

Journalistin oder Autorin: in welchem Bereich sind Sie zuhause?

Ich bin immer noch gern Journalistin. Als Autorin genieße ich es, nicht Teil einer Institution zu sein. Zuhause? Die Frage habe ich mir noch nicht gestellt. Mit dem Begriff Heimat verbinde ich das alles nicht.

Sind Verkaufszahlen ein Geheimnis?

Wenn Sie mich nach Verkaufszahlen fragen, ist es so, als würden Sie mich nach meinem Gehalt fragen. Eine Frage nach Auflage, ist eine Frage nach Geld. Ich finde das nicht interessant. Was sagt das? Nur etwas über den Markt in einem ganz bestimmten Moment. Was sagen die Verkaufszahlen über Kafka?

Katja Lange-Müller sagt, zu dicke Bücher würden den Lesern Zeit rauben.

Das kommt darauf an. Bücher haben eine natürliche Länge, oder sollten sie haben. Die natürliche Länge meiner Bücher scheint im Bereich von 200 bis 240 Seiten zu liegen. "Der große Gatsby" hat im Original rund 160 Seiten und ist einer der großen Romane des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Quantifizierung, sowohl was die Seitenzahl als auch die Verkäufe angeht, ist völlig nebensächlich. Aber ich will keine tausend Seiten schreiben.

Wie kamen Sie zu Ihrem Verlag?

Ich habe einen guten Agenten.

Wie kommt man zu einem guten Agenten?

Indem man ihm ein Manuskript schickt.

Warum finden Verlage Agenten nicht immer grandios?

Natürlich arbeiten manche Verlage, so heißt es jedenfalls, gerne mit unbedarften Autoren allein. Aber ich glaube, das hat sich sehr verändert in den letzten Jahren.

"Jeder Text wird durch ein Lektorat besser"

Macht man alles, was der Lektor will?

Jeder Text wird durch ein sorgfältiges Lektorat besser, wenn man einen Lektor hat, mit dem man arbeiten kann. Wenn das nicht funktioniert, muss man wechseln. Ich hatte bisher Glück.

Sind Lektoren mehr beteiligt als öffentlich wahrgenommen wird?

Es gibt berühmte Beispiele wie Raymond Carver etwa und sein Lektor Gordon Lish. Wenn man da die ursprünglichen Fassungen liest, kommt man ins Zweifeln, wie weit ein Lektor gehen darf. Aber Carver wurde durch die von Lish redigierte Fassung berühmt. Und dann wurde Lish berühmt, weil er darüber gesprochen hat. Was eigentlich nicht in Ordnung ist. Wenn ich Texte von freien Autoren redigiere, werden die auch besser, hoffe ich, aber mein Name steht nicht dabei, das ist eben der Charakter des Lektorats.

In Danksagungen wird dem Lektor gern gehuldigt.

Ich schreibe keine Danksagungen.

Sie gehen 2021 in den Ruhestand. Wie sehen Sie diesen Abschied?

Das ist ja noch nicht übermorgen. Ich werde weiter schreiben, nur halt nicht mehr in der Redaktion und andere Sache, vermute ich. Eine Kollegin schnitt im letzten Jahr vor ihrem Ruhestand für jeden Tag ein Stück Band ab. Das werde ich sicher nicht machen. Ich sehe dem Abschied aber auch nicht mit bangem Herzen entgegen. Ich mache genug andere Sachen.

Wie sieht es mit dem nächsten Roman aus?

Mal sehen.

Wie fühlten Sie sich direkt nach der Veröffentlichung Ihrer Romane?

Das ist immer ein besonderer Augenblick, voller wechselnder Gefühle. Ich feiere eine Geburtsparty für das Buch. Danach löst sich das Buch von einem und es steht eigenständig in der Welt.

Sind Rezensionen schmerzhaft?

Sie schmerzen, wenn sie etwas offensichtlich Falsches schreiben und wenn sie kriterienlos sind. Wenn Urteile ohne Begründung gefällt werden, einfach so mal.

Richtet Literaturkritik Schaden an?

Öffentlich urteilen zu können, verleiht Macht, und es gibt Menschen, die das genießen. Die sich an eigenen extremen Urteilen freuen. Diese Form der Literaturkritik finde ich unsinnig. Die Extreme sind dann sinnlos, wenn ich als Leserin nicht verstehe, warum der Rezensent ein Buch großartig oder schlecht findet.

Ihre Lieblingsrezension?

Ursula März schrieb in der „Zeit“, die Autorin, also ich, säße offenbar auf einem „Erzählschatz“. Das gefiel mir sehr, weil es eine Perspektive aufmacht.

Das Gespräch führte Jan C. Behmann

Info

AnderswoVerena Lueken Kiepenheuer&Witsch, 240 S., 20,00 €
Gebrauchsanweisung für New YorkVerena Lueken Piper, 224 S., 18,00 €
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