Wenn ich mal gehen muss

Leben Jede Zeit außer die der Zeit, ist endlich. Was mir am Ende meiner Zeit wichtig würde

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Wenn ich mal gehen muss

Foto: Ethan Miller/Getty Images

Triggerwarnung
Dieser Text handelt über das Lebensende. Wenn dieses Thema dunkle Gedanken bei Ihnen auslösen könnte, lesen Sie den Text bitte nicht. Beachten Sie weitere Hinweise am Ende des Textes.

Musikhinweis
Randy Newman: When I´m gone

Prolog

Ich habe in meinem frühen beruflichen Leben im Rettungsdienst viele Todesarten und noch mehr verschiedene Arten sämtlicher Vorstufen, dem Sterben, erlebt. Es gibt wohl nur den einen Tod, aber der Weg dahin, ist so individuell wie das Leben jedes einzelnen Menschen, ja wohl jedes Lebenswesens in diesem unergründlichen Etwas, was wir Welt nennen, um die Wucht der Unerklärbarkeit aushalten zu können. Wenn Sie den Text lesen, werden Sie vielleicht merken, dass es kaum um externe Sachbezüge geht. Kein Wetter, keine Orte, keine extrakorporalen Routinen - außer die der Menschenresonanz. Ich glaube fest daran, dass diese ganzen technischen Reize, nur der Paralyse des Lebenserlebnisses des Einzelnen dienen. Und damit in eine kollektive Parallelwelt der Endlichkeitsverweigerung führen. Viele Menschen leben ein „lala-tralala- Leben“ - laut, vorpreschend, lustversessen und dabei auf eine erschreckende Weise erlebnisleer. Zwischen erleben und erledigen liegen Welten. Sie müssen, so meine Auffassung, nicht rumreisen, rumkraxeln, Orte abhaken, Erlebnisse sammeln, mit angeblichen ganz tollen Freunden angebliches Halligalli machen, um ein erfülltes Leben gehabt zu haben. Ich denke sogar, vielen ist nach einem anscheinend vollen Leben klar, dass es das nicht war. Aber was wäre wahr gewesen? Das muss jeder, mit großer Arbeit und durch und an sich, selber herausfinden und ausdefinieren. Doch jeglicher Privatexzess, ists sicher nicht. Denn dann haben sie zwar viel erledigt, aber dennoch nix erlebt.

Die Fragestellung der folgenden Zeilen war, was mir wichtig wäre und würde, wenn ich wüsste - oder auch nicht - dass das Ende naht. Wie alle Zustände, habe ich die nicht immer leichte Überzeugung, dass das Durchdenken von Etwas dem ganzen zumindest teilweise seinen Schrecken nehmen kann - wenn es nicht zu einem wiederkehrenden alptraumhaften Erleben wird. Und vielleicht fragen Sie sich am Ende dieses Textes auch, was Ihnen wirklich an Ihrem Ende wichtig werden würde. Vielleicht ist es etwas ganz anderes, als das ich es mir wünsche.

Das Ende geht nie ohne das Vorher

Die Zeit in dem Dasein, was wir als das Menschsein beschreiben, ist ein endliches. Ein unvorhersehbares, vages. Wir hätten gern Verbindlichkeit, wüssten aber davon gerne erstmal nichts. Denn wer will schon sein Todesdatum wissen? Andererseits wäre ein Leben ohne Grenze kein Leben, sondern eine unlebbare Utopie, ganz wider der grundmenschlichen Existenz, ja wider der ganzen Struktur unserer Erde. Alles was lebt, erblüht. Und wo es blüht, muss es welken. Denn ohne Welken, kein Blühen. Ohne Vergehen kein Kommen. Neues geht nicht ohne dass das Alte Platz macht, denn der ist limitiert.

Ob man spontan gehen muss oder darf, oder Zeit hat, dafür gewiss seelisch und körperlich leiden muss (wohl nicht darf, oder?) - das entscheidet allein Er - oder wer? Das spontane lässt dabei so wenig Abschied zu, das lange Spiel zum Ende lässt einen dagegen vielleicht zum Zerrbild seiner Selbst werden. Alles ist keine Lösung, denn die Lösung gibt es nicht.

Die eine Lösung gibt es nicht

Was würde ich mir wünschen? Ich würde mir wünschen, den Menschen denen ich in Liebe verbunden bin, sehr intensiv nochmal nah zu sein. Den wenigen, die viele sind, denn ich habe und werde mich in meinem Leben immer selektiv-begrenzt für Menschen, dann aber ganz, entscheiden. Sie sollten mir nah sein, wir wollen zusammen sitzen, reden, schweigen und singen. Wir sollten gemeinsam weinen, und dann herrlich lachen. Ich bleibe immer ich. Egal wie ich mich verändern muss. Ob sabbernd oder säuselnd. Ich bleibe immer ich. So sollen meine Lieben nicht aus Furcht weglaufen, sondern bleiben und dabei wissen, dass ich doch immer noch der bin, der ich immer war. Ich bleibe immer ich. Sterben gilt es zu ertragen, wenn man doch das Leben gemeinsam teilte, so sollte man dringlichst auch das Sterben gemeinsam durchschreiten.

Gehen müssen bedeutet nicht verlassen werden

Ich möchte meine Lieben bei mir haben. Mit meinen Kindern albern, mit ihnen nochmal Hörspiele in Dauerschleife hören, in Büchern blättern bis die Seiten ausfallen. Meine Frau, mein Lebensbahnhof, soll mir nahst sein. Ich will ihr sagen, sie spüren lassen, das gehen müssen nicht verlassen werden heisst. Ich werde immer da sein, mit meiner Aura wie bisher. Ich will allen in die Augen sehen, ich will sie riechen und ihr Sein nochmal verinnerlichen. Ich will ihnen auf wiedersehen statt tschüss sagen. Ich will ihnen glaubhaft machen, dass der Sonnenaufgang nicht am Einzelnen hängt und dass das Leben eines Einzelnen für eben diesen jeweils Einzelnen größer ist, als am vergehenden Leben des Anderen seine eigene Verdammnis verpflichtet zu sehen. Gehen zu müssen, wird nie ein Sonnenaufgang sein, doch kann es wie jeder Abschied durch das Annehmen desselbigen zu Erträglichkeit führen. Daran glaube ich.

Ich will Frieden ausstrahlen, in einer Welt, die diesem Frieden nie gerecht werden könnte. Aber mit Menschen, den Lieben, mit ihnen werde ich Frieden erleben und in diesem Frieden mich verabschieden in eine Ewigkeit, die uns alle einen wird.

Nur irgendwann, nicht bald. Doch dann, dann soll es so sein wie eine Umarmung, die in einen tiefen, traumlosen Schlaf mündet. Auf wiedersehen, sage ich dann, und meine es auch so. Ich liebe euch, und mehr, mehr muss nicht sein, denn mehr kann nicht gewesen sein.

Hinweis

Sind Sie einsam, depressiv oder haben Suizidgedanken? Bitte kontaktieren Sie umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Sie erreichen diese unter den kostenlosen Telefonnummern 0800-1110111 oder 0800-1110222. Die dortigen Berater zeigen Ihnen Wege aus schwierigen Situationen auf und werden Ihnen helfen.

In lebensbedrohlichen Fällen oder im Zweifel, rufen Sie den Notruf unter 112 oder die Polizei unter 110. Dies gilt auch, wenn Sie vermuten, das andere Menschen sich in akuter Gefahr befinden. Auch wenn Menschen im Internet im Zweifelsfalle Lebensbedrohliches ankündigen, nutzen Sie umgehend den Notruf der Polizei unter 110.

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