Sie ist gerade auf Lesereise, wir erreichen uns am Telefon. Sie brauche Kaffee („gegen die Heiserkeit“), sagt C. Juliane Vieregge, dann reden wir über den Tod. Ein Thema, das mir als langjähriger Rettungshelfer vertraut ist.
der Freitag: Frau Vieregge, Ihr Buch heißt „Lass uns über den Tod reden“. Aber es geht mehr um das Sterben, um Verlust.
C. Juliane Vieregge: Meine Themen sind Tod und Trauer. Das Verschwinden eines Menschen. Und das drückt sich für mich durch den Tod aus, nicht durch das Sterben. Es überfordert uns auf emotionaler wie auch intellektueller Ebene. Es geht leichter, wenn man darüber redet. Unsere Gesellschaft ist aber hinsichtlich der eigenen Vergänglichkeit oft sprachlos.
Sie schreiben, Sie hätten gern mit Ihrem verstorbenen Vater mehr Zeit verbracht, mehr geredet?
Ja, auch bei meinen Lesungen kommt dieses Thema immer wieder auf, dass es so schwer ist, die Sprachlosigkeit zu überwinden, wenn man sich jahrelang eher angeschwiegen hat und eine komplizierte Beziehung zu den Eltern hatte. Das muss aber von beiden Seiten passieren – man kann als Kind nicht alleine das Schweigen brechen.
Sie haben Ihren Vater beim Sterben begleitet. Wie war das?
Der Tod hängt wahnsinnig eng mit dem Leben zusammen. Ich war sehr unzufrieden mit meiner Rolle als Sterbebegleiterin, ich habe da keine Heldengeschichte zu erzählen. Wir hatten ein Verhältnis, das – trotz gegenseitiger Liebe – von einer tiefen Sprachlosigkeit geprägt war. Das kann man nicht innerhalb von sechs Wochen, kurz vor dem Tod, revidieren. Hinterher habe ich es sehr bereut, dass ich nicht mutiger gewesen bin. Aber natürlich gibt es auch auf der letzten Strecke noch die Chance, etwas in Ordnung zu bringen.
Sie machten sich auf die Suche nach den Erfahrungen anderer, die Ähnliches erlebt haben. Ein Weg, damit umzugehen?
Ja, ich wollte von anderen hören, wie es für sie gewesen ist. Und war beeindruckt von den durchaus positiven Erlebnissen und auch traurig, dass ich es nicht besser hinbekommen hatte. Die Frau meines Vetters, der vor einigen Jahren an Krebs verstorben ist, erzählte mir, dass sie seinen Kopf in ihren Schoß genommen und ihm aus dem Tibetanischen Totenbuch vorgelesen habe, bis er aufgehört hat zu atmen. Durch solche Geschichten kam mir die Idee zu dem Buch. Ich wollte Wege aufzeigen, wie man besser mit dem Sterben umgehen kann.
Wie konnten Sie Prominente wie Boris Palmer oder Katrin Sass für Gespräche gewinnen?
Ich machte die Personen durch Recherche ausfindig, zum Beispiel wenn sie in der Öffentlichkeit über ihren Verlust sprachen. Dann habe ich sie angeschrieben. Am Ende war bei diesem heiklen Thema die Sympathie für mich ausschlaggebend.
Wie liefen die Gespräche ab?
Es waren sehr lange Gespräche. Bei fast allen meinen Interviewpartner*innen war ich zu Hause. Bei Gisela Getty und Katrin Sass durfte ich zwei Tage wohnen. Aus bis zu siebzig Seiten transkribierter Tonbänder entstanden dann die Berichte.
Gibt es einen guten Tod?
Ja, wenn ich an die achtzehn Geschichten im Buch denke, hat neben anderen der Schauspieler Enno Kalisch mit seinen Eltern einen guten Tod hinbekommen. Er hatte die Chance, mit ihnen schon lange zuvor darüber zu sprechen, und er konnte klare Regeln setzen. Der Vater ließ den Rollentausch trotz seiner Dominanz zu und ordnete sich seinem Sohn unter.
Zur Person
C. Juliane Vieregge wuchs in Kamen/Westfalen und Essen auf. Sie studierte evangelische Theologie, Germanistik und Kunstgeschichte in Münster, Hamburg und Tübingen, wo sie lebt. Im Stuttgarter Literaturhaus absolvierte sie von 2011 bis 2013 eine Ausbildung im Creative Writing, das sie heute in Tübingen – mit jährlichen Publikationen – unterrichtet. Ihr Buch Lass uns über den Tod reden – ein Buch über Tod und Trauer erschien im März im Christoph Links Verlag
Nicht leicht, diesen Wendepunkt der Fürsorge in einer Eltern-Kind-Beziehung zu bewältigen.
Für beide nicht leicht. Aber es wird eben von den Kindern auch oft nicht durchgefochten. Daran muss man lange vorher anfangen zu arbeiten.
In unserer durchrationalisierten Welt bleibt häufig kaum Raum für Trauer. Was macht das mit uns?
Es macht aus uns funktionierende Marionetten. Eine Freundin arbeitet in der Psychiatrie und sagt immer: Wer trauert, kriegt Tabletten. So ist es, leider. Viele Menschen landen aufgrund von unbewältigter Trauer in der Psychiatrie. Lange Trauerphasen sind in unserem Gesundheitssystem nicht berücksichtigt. Wir sind von klein auf gewohnt, uns dem Diktat der Arbeitsstruktur und des Zeitplans anzupassen – allerdings mit Blessuren. In meinem Buch gibt es zwei Kapitel über Väter, die beide ihre Söhne verloren und einen anderen Weg des Trauerns gefunden haben. Die Trauer durfte sich in ihr Leben einweben. In der Folge hat sich auch ihr jeweiliger Berufsalltag verändert.
Inwiefern haben die Erlebnisse Ihrer Gesprächspartner Sie hinterher noch beschäftigt?
Das Schicksal von Professor Arsène Verny ging mir sehr nahe; es ist eine schreckliche Geschichte. Sein Sohn starb beim S-Bahn-Surfen. Ich habe ihn zwei Jahre nach dem Unfalltod interviewt und er unternahm gerade wieder erste Gehversuche im Leben. Die manische Energie, die Trauer auch auslöst, hat er kanalisiert, indem er in Berlin die Valerian-Verny-Stiftung gegründet hat. Das Schöne für ihn ist, dass er dadurch jeden Tag den Namen seines Sohnes ausspricht und so ein Weiterleben mit ihm möglich gemacht hat.
Was nehmen Sie selbst aus diesen Begegnungen mit?
Ich gehe noch sorgfältiger mit meinem Leben um. Zehn Jahre habe ich an dem Buch gearbeitet, und es hat mich verändert. Ich verplempere keine Zeit mehr und achte nicht darauf, was andere von mir erwarten.
Über den Tod wird geschwiegen, er wurde aus unserer Gesellschaft verdrängt.
Ja, und ich sehe, dass viele Menschen einen großen Redebedarf haben. Als ich meinem Friseur von meinem Buch berichtete, erzählte er mir unter Tränen vom frühen Tod seines Vaters. Das sind Traumata, die in den Menschen schlummern. Sie sind oft nicht verbalisiert und können somit auch nicht so gut verarbeitet werden. Die Toten werden geräuschlos entfernt, die Kinder werden aus dem Raum geschickt, und der Sarg mit dem Leichnam bleibt verschlossen.
Monika Ehrhardt-Lakomy hat ihren Mann in der Küche aufbahren lassen ...
Ja, die Künstlerfreunde kamen und man sang zusammen seine Lieder und aß und trank auf "Lacky". Sie nannte es eine „Himmelfahrtsfeier“. Das mag für Außenstehende merkwürdig klingen, war aber für die Trauernden der geeignete Rahmen, Abschied von ihm zu nehmen.
Wenn ich in Altersheimen bin, empfinde ich den Tod oft als gute Möglichkeit.
Das kommt auf die Einrichtung an. Meine Mutter lebt in einem Seniorenstift. In dem ersten war die Pflege nicht gut. In dem jetzigen Pflegeheim wird sie viel liebevoller versorgt und ist körperlich und geistig wieder aufgeblüht. Ich stehe solchen Einrichtungen nicht prinzipiell entgegen. Für mich wünsche ich mir aber eher eine Alters-WG.
Kann der Tod Abenteuer sein?
Sie stellen Fragen! (leicht empört, denkt nach) Ganz ehrlich: Ja! Mein Vater war Naturwissenschaftler und immer neugierig auf die Welt. Er hatte einen Vertrag mit der schweizerischen Sterbehilfeorganisation Dignitas. Er hat diesen Vertrag aber letztlich nicht eingelöst, wie das übrigens häufig bei Menschen passiert, die sich damit absichern wollten. Es gab da eine Situation, in der er zu halluzinieren schien: Er bat mich darum, ihm den Becher von seinem Nachttisch zu reichen, er beschrieb ihn auch genau, doch so einen Becher gab es da definitiv nicht. Nachdem ich alle Gegenstände vom Nachttisch hochgehoben hatte, sagt er: „Ach! das, was ich sehe, steht da gar nicht, oder? Das muss mein Gehirn machen.“ Bis zum Schluss sah er sich selbst beim Sterben zu, wie in einem wissenschaftlichen Experiment.
Für andere ist es schwerer.
Gisela Gettys Zwillingsschwester hingegen wollte nicht loslassen und hatte eine unglaubliche Wut. Erst ganz zum Schluss war sie versöhnt damit, aus dem Leben gehen zu müssen.
Wie bewahrt man Leichtigkeit?
Ich lege mich abends hin und frage mich, ob ich gemacht habe, was ich mir morgens vorgenommen habe. Man sollte täglich, nicht erst am Ende des Lebens bilanzieren.
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