Wir müssen reden

Psychotherapie Kaum einer macht es offiziell, aber viele Menschen bräuchten jemanden zum professionellen Reden. Die Psychotherapeutin Lori Gottlieb legt ein wichtiges Buch dazu vor

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Sonnenuntergang am Venice Beach in Los Angeles. Auch hier kann man traurig werden
Sonnenuntergang am Venice Beach in Los Angeles. Auch hier kann man traurig werden

Foto: Apu Gomes/AFP/Getty Images

Pascal sitzt mir gegenüber und räuspert sich. Nein, meint er, er brauche keinen Coach – oder noch schlimmer – einen Therapeuten, er habe ja Freunde. Beim Wort Therapeut hätte man auch meinen können, er spreche von Fußpilz. Nichts ist dem westlichen Industriemenschen mehr verhasst als die seelische Schwäche. Es ist ein Stigma. Der gebrochene Arm gilt als heroisches Meisterwerk, unverschuldet, egal wie dämlich man sich angestellt hat. Denn auch in Grundauf dummer praktischer Verhaltensweise steckt in jedem Unfall noch etwas Glamour d‘accident.

Nur das Problem ist: Nicht jeder hat einen gebrochenen Arm, aber jeder, wirklich jeder, hat Schäden in seiner Seele. Wie der Volksmund so schön sagt: Unter jedem Dach ein Ach. Reden will darüber niemand. Die Sportverletzung hat ein hohes Ranking, die Depression und ähnliches nicht. Alles in dieser Richtung gilt als Schwäche und nahe dem Wahnsinn. Dabei sind die eher am Wahnsinn, die davon reden, dass eine seelische Problematik nah am Schwachsinn sei. Es lässt sich herrlich lachen über die Malaisen von Menschen und so ist es nicht verwunderlich, dass ein Mensch, der den progressiv-aggressiven Früchten der spätkapitalistischen Arbeitswelt verängstigt gegenübersteht, geächtet werden muss. Wer sich nicht in Sekundenschnelle per Fahrstuhl in den x-ten Stock eines Hochhauses hochkatapultieren lassen will, wer nicht 200 km/h auf der Autobahn fährt oder wer es befremdlich findet, an einem bodentiefen Fenster 80 Meter über der Erde zu arbeiten, gilt per se als plemm-plemm. Doch ist vielleicht die These des Psychiaters Manfred Lütz öfter richtig als man denkt: Wir behandeln die „Falschen“, die gemeinhin „Normalen“ sind das Problem? (Lesen Sie auch hierzu den Essay von Konstantin Nowotny über psychische Gesundheit in der modernen Welt: Verrückt sind die, die noch können)

Zumindest sind die „Normalen“ regelmäßig Anlass, dass man an der Richtigkeit von Normalität zweifeln kann. Pascal ist so ein Mensch. Alles im Normbereich und doch findet er die meisten Menschen doof. Alle sind irgendwie dämlich. In WhatsApp lässt er seiner Verachtung gegenüber der Welt freien Lauf. Als reflektierter Mensch weiß man dann, das Pascal ein Problem hat. Genauso wie die Menschen, die mit heulendem Motor durch die 30er-Zone rasen. Doch selber denken sie am wenigsten daran, ein Problem zu haben. Folglich fehlt dann auch das Verständnis, sich Hilfe zu holen. Denn wofür? Die anderen, die sind ja die Bekloppten. Und da beginnt das Problem.

Freunde können wenig helfen

Wenn Menschen wie Pascal auf ihren Freundeskreis verweisen, kann man eigentlich nur müde und grad noch mitleidig lächeln. Denn Freundeskreise sind ebenso Machtgefüge wie Familien. Es ist sehr selten, dass Menschen dort einigermaßen neutrale Reflektion erhalten. Wenn man Pascal fragte, ob er einen gebrochenen Arm von einem handwerklich versierten Freund operieren lassen würde, dann lacht er sicher laut (wohl zu laut). Warum er seine zwischenmenschlichen Probleme nicht mit einer qualifizierten Person bespricht, sondern mit seinen Freunden, das versteht man als Ergebnis der Stigmatisierung von seelischen Problemen und Erkrankungen.

Wenn man sich professionell hat reflektieren lassen, kann man irgendwann nicht nur sich, sondern auch andere hinterfragen und besser verstehen. Einem wird oft klar, woran Menschen immer wieder scheitern und warum sie auf Ansage wieder und wieder gegen eine Mauer rennen. Wenn man sie auf einen Alternativweg hinweist, werden sie brüsk, denn oft soll es gar nicht klappen oder eine Alternative geben. Aus Leid kann man oft viel mehr ziehen als aus einer Lösung. Das wissen Freunde aber in der Regel nicht. Wenn man reflektiert ist, merken das die Menschen. Sie merken dass man ihnen zum Teil hinter die Stirn blicken kann, sie spüren, dass sie einem nicht mehr jeden Bären aufbinden können. Was werden da für schlechtlaufende Beziehungen und Lebenssituationen für Narrative und Framings erfunden, man kann mit einem Blick sagen: Glaube ich dir nicht. Das ganze Konzept Social Media lebt davon. Glauben Sie vor allem nicht vieles von dem, was Sie da sehen. Und es geht nicht um das Materielle.

Eine Bekannte befindet sich im viel geachteten Auslandseinsatz. Was sie da wirklich macht, wissen viele ihrer Follower nicht, und wollen es auch gar nicht so genau wissen. Realität zerstört die Illusion, an der sich laben lässt. Als sie merkt, dass meine Frage nach ihrem allgemeinen Befinden nicht nur Phrase sondern ehrliches Interesse ist, ich mich nicht von der Auslandskulisse behände blenden lasse (ohne das sie viel selber dafür tut, das meiste läuft im Kopf ihrer Follower automatisch ab), lässt sie den Kontakt schnell versanden. Es ist dann die sofortige Sorge, doch ertappt dabei zu werden, dass nicht alles so toll ist, wie man es glaubt der Gemeinschaft vorspiegeln zu müssen. Wobei das „müssen“ hier schon fast eine wahrhaftige Wahrnehmung ist, stehen doch die Türen derer, die einen in passende Schubladen stecken wollen, sperrangelweit auf.

Auch in LA ist die Seele dunkel

Lori Gottlieb ist Psychotherapeutin in Los Angeles. Wenn man ihre Praxisadresse in Google Earth eingibt und in dieser sonnenverwöhnten Region landet, fragt man sich, wie an diesem optisch paradisischen Fleckchen Erde überhaupt jemand Therapie braucht. Aber genau das ist der Trugschluss: Meer, Strand und Sonne sind nur die designierten Insignien des Wohlfühlens. Menschen auf den Bahamas können viel mehr am eigenen Abgrund ihrer Seele stranden, als in Essen-Kettwig im Hochhaus. Diesem Framing des Wohlergehens bietet die Urlaubsbranche dann die Manifestierung. Nur wer wegfährt und sich mal eine Auszeit gönnt, der kann leben und frei sein. Aber frei sein von was, wäre die Frage? Der westliche Industriemensch ist dazu erzogen, die Arbeitszeit als eine Tauchstrecke bis zum nächsten Urlaub zu fühlen. Alles ist Zwang, eigentlich will man ja was ganz anderes. Am Strand liegen, nichts machen. Lottogewinner beweisen (in kleiner Referenzgruppe, aber dennoch), dass den an den Strand katapultierten Durchschnittsmenschen doch kein automatisches Glück beschieden ist. Warum denn nicht, wenn Geld genug da ist und somit auch Freiheit? Freiheit ist ein schwieriges Thema, würden Ihnen da Therapeuten sagen. Denn wer hat die schon noch – oder je gehabt? Mit Entgrenzung umzugehen fällt nicht nur Teenagern schwierig, sondern auch und gerade erwachsenen Menschen. Wie mit der Zeit umgehen und sich selbst aushalten? Wo doch unser ganzes (in diesem Beispiel bisheriges) Leben darauf ausgerichtet war, bloß nie zur Ruhe zur kommen. Wenn du dich auf die Terrasse setzt, und keine Ruhe findest, dann merkst du dein Problem, lässt Ulrich Schnabel in seinem Buch Muße (Panthenon, 2010) eine Szene beginnen. Überlassen Sie westliche Angestellte mal sich selbst und ihren inneren Emotionen – da können Sie metaphorisch auch die Lüneburger Heide anzünden. Der Frage wie man sich in so einer Situation, die man viel häufiger trainieren sollte, aushalten kann und warum das so schwer ist, klärte der Jesuitenpater Michael Bordt in seinem kleinen Büchlein Die Kunst sich selbst auszuhalten (ZS Verlag, 2013).

Zurück aber nun zu Lori Gottlieb. Was wir wissen: Auch in LA ist nicht alles seelensonnig. Was wäre, wenn die Therapeutin selbst eine Krise erlebt und einen ihrer Kollegen aufsuchen muss? Nach einer gescheiterten Beziehung ist es soweit: Gottlieb landet bei Wendell, der ihr empfohlen wird. Doch warum verkraftet eine erfahrene Therapeutin ihre eigene Trennung nicht von einem Mann, der merkt, das er keine Kinder mit ihr haben will? Warum kann sie sich nicht selbst therapieren? Ganz einfach: Therapie kann nur in einer Beziehung stattfinden (nicht die, die Sie so panisch auf Parship suchen), in einer gelebten Interaktion. Man kann diese Therapie sich auch nicht erlesen (man wird vom Lesen der Speisekarte ja auch nicht satt), daher sind Ratgeber nett gemeint, aber final wertlos. Sie können nur Anstoß sein. Daher verfolgt das Buch von Gottlieb Vielleicht solltest du mal mit jemanden darüber reden gar nicht den Ansatz, irgendwas zu raten oder zu beratschlagen. Es ist ein Roman mit realen Grundzügen aus der Biographie der Therapeutin Gottlieb und ihren Klienten.

Gottlieb selbst war nicht auf direktem Wege Therapeutin geworden, vorab versuchte sie sich im Medizinstudium, brach ab und landete dann im Storytelling in Hollywood. Ein Studium und Ausbildung zur Psychotherapeutin schlossen sich an. In dem vorliegenden Buch schafft sie es, ihre eigene Geschichte und die ihrer exemplarischen Klienten (einem tyrannischen Narzissten, einer älteren Dame ohne Beziehung zu ihren Kindern, einer jungen Krebspatientin mit infauster Diagnose und einer jungen Frau mit Suchtproblemen) so zu verweben, das daraus spannende (aber realistische) Fallgeschichten werden (die Zeit in Hollywood war also auch für sie eine wichtige Umwegsstation ihres Lebens), die jeder versteht und damit nachvollziehen kann. Nicht jeder ist für die Literatur von Irvin D. Yalom (der Gottliebs Buch auf dem Cover sogar lobt) oder gar die teils wirklich anspruchsvollen Abhandlungen des Münchner Psychotherapeuten Wolfgang Schmidbauer vorbereitet. Gottlieb kommt belletristisch daher, aber grade in der Psychotherapie ist der leichte Einstieg für die breite Masse besonders wichtig. Lesen sollte dieses Buch daher jeder. Denn es macht einen wirklich schlauer. Über sich und über die anderen. Was will man mehr?

P.S.: Pascal redet immer noch mit seinen Freuden.

Info

Lori Gottlieb: Vielleicht solltest mal mit jemandem darüber reden, Hanser Verlag, 25€

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