Schade, er hätte sich sicher gefreut, durchzuckt es einen bei der ersten Inaugenscheinnahme von Sæterbakkens Roman, der vor kurzem bei Dumont erschien. So gerne würde man den Autor einiges zur Entstehung fragen. Aber das geht nicht, er nahm sich 2012, mit sechsundvierzig Jahren, das Leben. Ein Jahr, nachdem der vorliegende Roman erschienen war. Kann ein Mensch seiner selbst vortrauern?
„Wir konnten den Laden nicht eine Weile schließen“, sagt Martin Suter auf die Frage, wie er nach dem Tod seines Sohnes 2009 reagierte. Man habe schließlich auch noch eine Tochter. Der eh schon leise Suter, wird dabei noch leiser und sackt merklich in sich zusammen. Wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzieht.
Wie reagieren Eltern, wenn ihr Kind stirbt? Helmut Schmidt war Pragmat. Auf die Frage von Sandra Maischberger Ende der 2000er, warum er nicht öfter am Grab seines Sohnes war, antwortete er, dieser sei auch nur ein knappes halbes Jahr alt geworden.
Kurzeittrauer?
Wien, Hauptfriedhof. Gleich kurz nach dem Eingang kommen sie. Die kleinen Gräber. Alles Kinder. An einem weht noch ein Kranz: Deine Kindergartengruppe. Es schnürt einem die Kehle zu. Der Wind weht eisig an diesem Tag, die Sonne strahlt.Die Differenzen zwischen Geburt und Ableben oft kaum errechenbar, so kurz war die Zeit.
Viele Gräber eint eins: viele sind verwahrlost, kaputt, zerpflückt. Warum?, fragt man sich, einen leichten Groll spürend. Vielleicht hatte Helmut Schmidt recht? Die Spuren verwischen bei kürzester Lebenszeit schneller, vielleicht sogar gewollt schneller, um diese Kerbe mit Massen an Verdrängungskitt zu füllen?
Trauer als Torte
Karls Sohn ist achtzehn, als er sich suizidiert. Für die Familie ist das der Strudel ins Jensseits im Diesseits. Alles bricht, ohne das es bricht. Als wenn das Leben plötzlich unfreiwillig in Aspik spielt.
Max Porter legte bei Kein & Aber sein hiesiges Debüt mit Trauer ist das Ding mit den Federn hin, ein verwirrendes Metaphernspiel um diese vielschichtige Emotion des Trauerns. Bei ihm ist es ein metaphsyischer Vogel, der immer wieder auftaucht und dem Gefühl eine Kontur geben soll.
Vielleicht kann man auch sagen, es ist wie in eine schwarze, klebrige Sahnetorte geschleudert zu werden. Alles wird langsam, quälend langsam, depersonalisiert distanziert. Eine Unschärfe dem Jetzt gegenüber. Gegenüber allem, was kurz vorher noch relevant zu sein schien.
Hilflosigkeit in allem
Sæterbakken schreibt gewaltig, aber nicht brüllend, es ist ein stilles Timbre der Hilflosigkeit seiner Figuren. Denn der Suizid des Kindes ist der Finalpunkt eines Herausbrechens des Protagonisten aus dem System Familie. Mit seiner Affäre, der jungen aber eigentlich kalten Mona, erodiert der Kreisschluß des Zusammengehörigkeitsgefühls und die Risse lassen das Konstrukt, alle Stützkraft zerbrechen.
Eine Freundin drosch letztens die neoliberale Phrase, jeder sei doch schlussendlich ersetzbar. Das ist Unsinn. Wer schon unwiederbringlich verloren hat, weiß das.
Auch in kurzen Kapiteln schafft der Autor es, Seinszustände unglaublich dicht und dabei klar zu erläutern, die Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig ist auf den Punkt, die Ausstattung bei Dumont inszenatorisch gelungen.
Es regnet stark, als ich das Buch auf dem Balkon aufgeschlagen vergesse. Als ich es reinhole, ist es stark gewellt und das Leseband hat seine blaue Farbe wie eine Markierung auf den Seitenschnitt fließen lassen.
Spuren. Für immer.
Durch die Nacht Stig Sæterbakken, Dumont 2019, 288 Seiten, 22 Euro
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