Zeitgeistbeste

Vater Wenn Eltern und Kinder sich erst Jahrzehnte nach der Geburt kennenlernen, birgt das mehr als ein Kennenlernen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Zeitgeistbeste

Foto: imago/United Archives International

Giovanni di Lorenzo schützt sein Privatleben. Als ausgerechnet der von ihm geachtete SPIEGEL seine Trennung durch eine Bildunterschrift offenbarte, war der Chefredakteur der ZEIT empört. Über andere Teile seines Privatlebens war der Sohn eines Italieners und einer Deutschen durchaus aussagewilliger.

Nicht unter Folter wäre ihm über die Lippen gekommen, seinen Eltern seine Liebe zu verbalisieren. Fand nicht statt. Die Eltern trennten sich in seiner Jugend, mit wahrscheinlich weichenstellenden Folgen: Er kam mit der Mutter nach Hannover, zu Verwandten. Meine Heimatstadt, heute durch EXPO 2000 nachhaltig aufgehübscht und semi-exprovinzialisiert, so war sie doch in den 70er an vakuumierendem Inselgefühl nicht zu überbieten.

Seine Eltern zu lieben, gar zu verehren in liebevoller, nicht patriarchialer Weise, ist heute oft selbstverständlich, ein Gegenteil lässt Gesichter entgleisen. Doch ist Zuneigung und Umgang zeitgeistbedingt? - Ja.

Alles ist der Zeitgeist und der Zeitgeist ist alles

Wir sind alle die Folge unserer Kindheit. Wohl dem der heute Kind sein darf, außer denen, die den Antinatalen in den Weg kommen (vgl. Die Zeit). Ich wage zu vermuten, di Lorenzos heutige Leistung als Chefredakteur (er hob das Wochenblatt aus der Bleisenke), sind auch ein weiterhin beständiges Streben nach Heimat (die er nach eigener Aussage nur in der Sprache fand), nach Anerkennung. Macht das die angebliche Generation [Variable] so entspannt, so zukunftsoffen?

Ich saß kürzlich in einer Berliner S-Bahn einem Vater mit seinem fünfjährigen Sohn gegenüber. Wie selbstverständlich zugewandt, wie ebenbürtig und doch liebevoll führend erklärte der Vater geduldig die Himmelsrichtungen. Mit welch Verve und Selbstverständnis doch diese Beziehung daherkommt. Als sei sie so. Aber sie war nicht immer so. Und das ist gar nicht lange her.

Im Café der Zeiten

Im Café Reinhards am Kudamm, kitschige West-Berliner Touristenkulisse mit zufälligem Heißgetränkeausschank, ist die große Bühne, ohne das jemand Notiz nimmt, dass an diesem Abend zwei Männer ein Blinddate haben. Sie sollten sich lieben, der eine sollte dem anderen erklärt haben, wo es langgeht, eben die Himmelsrichtungen des Lebens. Sie haben sich in geographischer Mitte getroffen, die sie emotional nicht haben, nicht hatten, nie entwickelt haben konnten.

Ich habe ihn ausgegraben, besser gesagt seine Anschrift. Obwohl ‚graben’ auch ein passendes Verb sein kann. Wenn es zu spät ist, oder nie früh genug hätte gewesen sein können. Gerhard Schröder musste jahrzehntelange Ahnungslosigkeit ertragen, bis er zumindest ein Bild seines im Krieg gefallenen Vaters zur Hand bekam. Folgt ein kompensatorischer Drang dem imaginierten Vater in welcher Sphäre auch immer zu gefallen? Kein Richtmaß durch ihn habend für die Grenzen der eigenen Vehältnismäßigkeit? Ja, er fehlt als Regulativ, sage ich. In plüschiger Atmosphäre des Reinhards betasten sich die Zwei wie Außerirdische. Kann man Zeit nachholen? Zuneigung retrospektiv ausfüllen wie einen Kaffeefilter falten, einlegen und füllen? Dieser Fremde hat eine Lebensgefährtin, halb so alt wie er, fast so jung wie ich. Das konserviert und beflügelt. Es offenbart Chancen des Streckemachens beim Kennenlernen.

Lässt sich Leben verdichten?

Roger Willemsen sagte, man könne das Leben nicht verlängern, aber verdichten. Er tat es und tat gut daran. Doch gilt das auch für Beziehungen deren Wachsen die Kindheit einen definierten Rahmen hätte geben sollen? Die Jahre sind ambivalent vergangen, der stete Vorwurf ist ein gedeckelter Imperativ. Wo warst du? Warum hast du nicht? Fragen die es nicht zu beantworten gilt, weil jede Antwort eine Zeitpunktfrage war. Wurde denn 1985 anders geliebt, anders gesorgt? Ja, so seine Meinung, ja wohl meine auch. Aus Not. Was soll man sagen, ohne in gefällige Dauerwehklage zu verfallen. Besser ohne als mit doof, ist dabei nicht nur orthographisch die falsche Formulierung. Die Rettung auf die Katastrophenszenarioinsel.

Doch wenn damals alles so ganz schlecht war, was ist heute schlecht und wird von der nächsten Generation belächelt? Sind wir in einer Gegenpendelbewegung, der bequemmachenden Vollumsorgung? Wozu anstrengen, Liebe und Geborgenheit gibt es zum Nulltarif?

Ein Technikhersteller sendete letztens im Kino effektheischende Werbung, mit VR-Brille einen Demenzkranken durch das digitale Betreten seines alten Lebens wieder kurzzeitig auf Spur zu bringen.

Es wird die einzige Methode bleiben in eine gemeinsame, retrospektive dabei vordergründig konvergente Erlebniswelt eintauchen zu können. Diese Art von gemeinsamen Erleben könnte die beiden im Reinhards vielleicht wirklich nochmal das gemeinsam erleben lassen, was sie unwiederbringlich verpassten.

Dennoch. Gemeinsame Zeit lässt sich vielleicht verdichten, aber nicht nachholen,

sage ich ihm, meinem Vater.

Jan C. Behmann lebt als freier Autor & Literaturkritiker in Frankfurt am Main.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden