Zu Neujahr wurde Hartz IV zehn Jahre alt, ein trauriges Jubiläum. Zugleich stritt man im Feuilleton das halbe vergangene Jahr darüber, ob nur noch Arztsöhne und Anwaltstöchter es sich leisten können, literarisch tätig zu sein. Höchste Zeit, zu fragen, ob zwischen diesen beiden Phänomenen ein Zusammenhang besteht und ob sich die deutsche Literatur vielleicht dorthin entwickelt, wo die britische Popmusik seit vielen Jahren steht. Denn die rigiden Sparmaßnahmen der einstigen Premierministerin Margaret Thatcher machten es proletarischen Britpoppern unmöglich, ihrer Kunst zu folgen. Mit dem Ergebnis, dass die britischen Top Ten bis heute von Privatschulabsolventen dominiert werden, die vom Working Class Hero nichts wissen wollen.
Wird das Prekariat auch in Deutschland endgültig an den Rand der kulturellen Wahrnehmung gedrängt? Oder ist es vielleicht genau andersherum? Solche Fragen stellen sich durch den „Social Turn“ in Literatur, Kulturwissenschaft und Kritik. Man weiß nicht genau, was man von diesem Turn halten soll. Hat es sich nach einigen anderen Turns (Acoustic Turn, Spatial Turn) am „Reck der Germanistik ausgeturnt“, wie der Frankfurter Literaturwissenschaftler Achim Geisenhanslüke spottete?
Karrieresprung
Oder kommt tatsächlich Bewegung in die Wissenschaft? Vergangene Woche sollte eine Münsteraner Tagung Klarheit verschaffen. „Im Kern geht es darum, die gesellschaftliche Verantwortung der Literaturwissenschaft wieder zu erneuern“, sagt Haimo Stiemer, einer der Organisatoren des Kongresses. Klingt gut, doch hat die Literaturwissenschaft diese Verantwortung wirklich? Und wie sähe sie aus?
Unstrittig ist, dass die neuerdings „Humanities“ getauften Philologien ein simples, aber großes Problem haben: Sie müssen originell sein. Das zeitigt bizarre Effekte, die der Berliner Akzelerationist Armen Avanessian gerade in seiner vielbeachteten Studie Überschrift aufs Korn genommen hat. Einerseits variieren die Geisteswissenschaften das immergleiche Wissen anhand ständig neuer Objekte: „Auch bei dem von mir ausgegrabenen Schriftsteller Soundso spielt die Schreibmaschine die Rolle eines Mediums, genau wie bei Friedrich Kittler, aber noch 23 Jahre früher!“ Andererseits wird der Kanon immer wieder mit neuer Theorie durchkämmt. „Medium der innovativen Forschung sind: schick zusammengetrommelte Tagungen, wohlkuratierte Sammelbände, interessante Drittmittelfortsetzungsanträge und vieles Schöne mehr.“
Womit wir beim Social Turn wären, der seit ein paar Jahren zum Karrieresprung in dieser Welt der Theorien ansetzt. Alles fing damit an, dass die Berliner Privatdozentin Elke Brüns vor knapp sieben Jahren den Sammelband Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur herausgab und diesen mit einem „Plädoyer für einen Social Turn in der Literaturwissenschaft“ eröffnete. Das passte in den Zeitgeist: Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hatte 2006 von den „neuen Unterschichten“ gesprochen. Ein Jahr zuvor hatte der verarmte Ex-Werbetexter Stefan Weigl mit Stripped. Ein Leben in Kontoauszügen den Hörspielpreis der Kriegsblinden gewonnen, und dann gab es eben noch Hartz IV.
Elke Brüns fiel auf, dass ausgerechnet eine Literaturgeschichte der Armut fehlt, dass Armut, wenn überhaupt, als zu überwindender Mangel verstanden wurde. Aus der Debatte über die Armut wurde eine über das Soziale an sich. An etlichen Stellen wird mittlerweile eine neue, irgendwie sozial engagierte Literatur eingefordert. Befeuert wird dieses Postulat durch die Behauptung, dass die deutsche Gegenwartsliteratur überwiegend von den Kindern bürgerlicher und großbürgerlicher Schichten verfasst sei (die sogenannte Florian-Kessler-These); dass sie dann von ebenfalls „bürgerlichen“ Verlegern herausgebracht und von „bürgerlichen“ Kritikern rezensiert werde.
Seitdem wurden etliche Romane auf beinahe spießige Parameter abgeklopft. Da musste sich der Leipziger Buchpreisträger Saša Stanišić von Maxim Biller maßregeln lassen, weil sein neuer Roman Vor dem Fest nicht von „Leuten wie sich selbst“ erzählt, sondern sich vom jugoslawischen Bürgerkrieg ab- und zur ihm doch fremden Uckermarck hinwendet.
Und als vor wenigen Wochen der Lesewettbewerb Open Mike in Berlin ausgetragen wurde, gab es Kritik aus verschiedenen Feuilletonlagern über die viel zu glatten, auf den etablierten Kulturbetrieb hin dressierten Nachwuchsautoren, die artig die Hand geben, sich verbeugen und Provokation als Kalkül einsetzen.
Ohne Kitsch
In seinem Sammelband Diskurspogo fragte der Kritiker Enno Stahl dagegen nach der „Literatur in Zeiten der Umverteilung“ und wie es passieren konnte, dass Soziales oft mit Romantik gleichgesetzt werde. Judith Hermann etwa ergründe Armut in ihren Geschichten nicht, sondern setze sie lediglich ein, „um ein soziales Klima zu erzeugen, dessen ihre Erzählungen, ihre Gestalten, zwingend bedürfen, um in einen nostalgischen Schwebezustand zu geraten“. Auf der Tagung in Münster forderte Stahl erneut mehr Erzählungen aus der Arbeitswelt und vermutete, dass ebendiese Geschichten von den Verlagen unterdrückt werden.
Aber stimmt das denn? Allein der Blick auf die Longlist des diesjährigen Buchpreises „zeigt einiges an sozialer Relevanz“, meinte Elke Brüns und nannte unter anderem die Romane 3.000 Euro von Thomas Melle und Unternehmer von Matthias Nawrat. Man könnte die Debüts Tigermilch von Stefanie de Velasco aus dem Jahr 2013 und Verena Güntners Es bringen anfügen, die eindringlich vom Leben in der Unterschicht erzählen. Dazu kommen großartige Erzähler wie Frédéric Valin, dessen Geschichtenband Randgruppenmitglied Milieus wie die Schlaganfallreha, die Prekariats-WG und das Leben von Möchtegernpunks beobachtet.
Es gibt Finn-Ole Heinrich, der seit Jahren über Ausländer, Nazis, Behinderte, über zerstörte Familien und nicht ganz so heile Beziehungen schreibt. Im Frühjahr 2015 wird das Debüt von Dimitrij Wall bei Eichborn erscheinen, der ebenso wie die meisten Autoren nicht aus einem Ärztehaushalt kommt und der sich literarisch nach oben boxen musste, also dorthin, wo die angeblichen Stars des Literaturbetriebs sitzen und sich mit Denis-Diderot-Bänden gegenseitig kühle Luft zufächeln.
Über das reale Arbeitsleben schreiben ohne Kitsch und mit genauem Blick deutsche Autorinnen und Autoren wie Karen Duve (Taxi), Clemens Meyer (mit dem Prostitutionsroman Im Stein), Heike Geißler (die in Saisonarbeit aus dem Amazon-Lager berichtet) oder Albrecht Selge, dessen Roman Wach im Einkaufszentrum spielt. Orte dieser Literatur sind keineswegs kleine Verlage, sondern Eichborn/Galiani (Duve), Fischer (Meyer), Rowohlt (Selge). Allein Geißlers Buch erschien bei den Newcomern von Spector Books – wurde aber besprochen in der Süddeutschen Zeitung,bei Zeit Online, ZDF Aspekte, im MDR-Fernsehen, im Deutschlandfunk und nicht zuletzt, auch hier im Freitag.
Dass die Armut in der Literaturwissenschaft bis vor sieben Jahren, seit Elke Brüns’ Band Ökonomien der Armut, nicht angemessen behandelt worden ist, mag stimmen. Alle weiteren Beobachtungen sind falsch. Der Kulturjournalist Florian Kessler, Absolvent der Hildesheimer Schreibschule, hat seine Erkenntnisse aus dem persönlichen Umfeld gewonnen und sich den Hintergrund der Diplomabgänger angeschaut. Inzwischen hat Hildesheim auf das Bachelor-Master-System umgestellt. Guido Graf, ebendort wissenschaftlicher Angestellter für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft, kann für die heutigen Studierenden nicht bestätigen, dass diese alle aus dem Bildungsbürgertum stammten. Eine interne Absolventenbefragung hat ein anderes Bild gezeigt. Damit ist freilich nicht belegt, dass der Betrieb besonders durchlässig wäre für die unteren Schichten. Vielleicht ist es aber auch nicht deren bevorzugtes Medium der Verständigung: Das Schreiben von Romanen war seit Anbeginn auch dort ein bürgerliches Projekt, wo die Gegenstände dieser Romane es nicht (mehr) waren.
Noch ein frommer Wunsch für 2015: Mehr Literaturkritik wagen, weniger B-Noten-Vergabe an jene, die seit Jahr und Tag über das Soziale schreiben, über Leben und Tod, Elend, Reichtum, das Hohe und das Niedrige. Hartz IV hat bislang keine Romane verhindert. Der Markt ist voll von ihnen, man muss sie nur entdecken. Und den „Humanities“ wünscht man Mut zum Kanon und weniger Turnübungen am germanistischen Reck. Wer Goethe gegen das Prekariat ausspielt, hat nichts kapiert.
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