Wie eingezwängt zwischen aktuelle Debatten kommen einem diese Romane vor. Man kann sie nicht lesen, ohne an Maxim Biller zu denken, der die Gegenwartsliteratur soeben in der Zeit einen todkranken Patienten nannte, der „aufgehört hat, zum Arzt zu gehen, aber allen erzählt, dass es ihm gut geht“.
Nach Differentialanalyse der fünf Shortlist-Bücher für den Preis der Leipziger Buchmesse drängt sich der Verdacht auf, Biller habe Phantomschmerzen diagnostiziert. Bereits Fabian Hischmanns agiles Debüt Am Ende schmeißen wir mit Gold schickt seinen Protagonisten Max Flieger, Ende Zwanzig und gelangweilt vom Lehrerberuf nach Süddeutschland, Kreta und New York, auf einer sich immer mehr beschleunigenden Reise, weg von der Jugend in eine ungewisse Zukunft. Hier kränkelt nichts. Es ist eine Suche nach jenen bereits 1984 beschriebenen Bright Lights, Big City Jay McInerneys, die seinen Sound vorgeben.
Dennoch nörgelt die Kritik, der Roman sei Tierfilmliteratur oder Mittelstufenlektüre eines gelangweilten Creative-Writing-Absolventen. Fabian Hischmanns Buchwird bereits vor Finalbeginn disqualifiziert. Aus dem Umfeld des Autors hört man, ihn schmerzten die unerwarteten Frontalangriffe. Das müssen sie nicht. Auch Christian Krachts Faserland wurde ehedem in jener FAZ verrissen, die sich Jahre zuvor über „Idyllen in der Wüste und das Versagen vor der Metropole“ beklagte. Doch als ein Held im ICE nach Zürich fuhr, bekam keiner den Paradigmenwechsel mit.
Ähnliches gilt für Hischmanns Debüt, das auf lässige Weise Diskurspogo tanzt und sogar die ihm vorgeworfene „Erfahrungsarmut“ literarisch diskutiert, wenn Max Flieger allein auf dem Hochstand im Wald sitzt und denkt: „Schwer zu sagen, was ich tun würde, hätte ich ein Gewehr“, als trauere er Rolf Dieter Brinkmanns Furor hinterher: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen!“ Muss Max, den feuilletonistischen Erwartungen entsprechend, Amok laufen, um jedem Verdacht zu entfliehen, er sei nur ein verweichlichtes Bürgerkind? Ist sein Thema und damit der ganze Roman zu klein?
Mosebachs Schwächen
Dass ein großer Stoff nicht automatisch gute Literatur macht, beweist hingegen der Büchner-Preisträger Martin Mosebach mit seinem 448-Seiter Das Blutbuchenfest. Ein eindrucksloses Buch. Darin porträtiert ein Kunsthistoriker „mit allerdings immerhin ‚Cum laude‘-Promotion“ die High Society Frankfurts Anfang der Neunziger, während der Balkan in den Krieg taumelt.
Figuren tauchen bei Mosebach als Typen oder Prinzipien, nie als Menschen auf. Das gilt für den großmäuligen Russen Wareschnikow, die bosnische Putzfrau Ivana und den Mad Man Rotzloff, der sich für kein Klischee zu schade ist: „Werbeleute pflegten in Frankfurt damals einen ostentativ luxuriösen Konsum-Stil: Champagner-und-alte-Bordeaux-Saufen, dicke Zigarren, teure alte Sportwagen, das gehörte ganz einfach zum Erkennungszeichen.“
Wo Hischmann über die Hip-Hop-Gruppe Massive Töne und Langneses Mini Milk schreibt, setzt Mosebach mit abgespreiztem kleinen Finger Tintoretto oder Ariadne ein und verrenkt sich mit Sätzen der Art: „Das kleine Telephon steckte ihr im Hosengürtel. Ein Knopfdruck, und das Übermutsdudeln verstummte. Statt dessen in raumloser Ferne, aus echolosem, fensterlosem Irgendwo die schlechtgelaunte Stimme ihres Mannes.“
Die Rechercheschwächen des Romans wurden längst erkannt und wer ein Handytelefonat „mit ph“ ins „echolose Irgendwo“ verlegt, der war noch nie Kunde deutscher Netzanbieter und wird sich zur Strafe von der Schriftstellerkollegin Katja Petrowskaja an die Wand spielen lassen müssen. Die letztjährige Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin bewegt sich in ähnlich ambitioniertem Raum wie Mosebach. Sogar Ariadne kommt bei ihr motivisch eingebettet vor. Doch ihr Roman Vielleicht Esther ist ein bildungssattes, sprachartistisches Gegenstück.
„Ich hatte gedacht, man braucht nur von diesen paar Menschen zu erzählen, die zufälligerweise meine Verwandten waren, und schon hat man das ganze zwanzigste Jahrhundert in der Tasche“, schreibt die Erzählerin, die wie Katja Petrowskaja in Kiew aufgewachsen ist, auch ebenso heißt und sich recherchierend durch den „Baumüll der Geschichte“ bewegt, ihrer jüdischen Identität nachspürend – um sie zu sortieren.
Selbst im Berliner Frieden des 21. Jahrhunderts bleiben die „wars“, die Kriege im Wort WARSzawa-Express, archiviert. „Wir sind mit 20 Millionen Kriegstoten aufgewachsen, dann stellte sich heraus, es waren viel mehr. Durch Zahlen sind wir verwöhnt und verdorben, von der Vorstellung der Gewalt vergewaltigt, wenn man diese Zahlen versteht, akzeptiert man auch die Gewalt.“
Dieser grandios verdichtete Roman kämpft gegen dieses Zahlen-Verstehen und Akzeptieren an. Er beweist, dass sich Erinnerungen an das Kinderspiel „Die Unsrigen gegen Faschisten“, die nationalsozialistischen Massaker von Babij Jar (auf deutsch: Babi Jar) und Großmutters süße Rosinenwürste nicht in einer Sprache erzählen lassen, dass Katja Petrowskaja die Ergebnisse ihrer tatsächlich stattgefundenen Familienrecherchen nicht wie einen Abzählreim nach-er-zählen kann: „Ich begab mich ins Deutsche, als würde der Kampf gegen die Stummheit weitergehen, denn Deutsch, nemeckij, ist im Russischen die Sprache der Stummen, die Deutschen sind für uns die Stummen, nemoj nemec, der Deutsche kann doch gar nicht sprechen.“
Wie läppisch klingt dem entgegengesetzt „The Making of a Nazienkel“, wie eines von 13 Kapiteln des anämischen Debüts Flut und Boden heißt. 1972 ist der Autor Per Leo geboren. Geschichte, Philosophie und Russische Philologie hat er studiert. 2009 wurde er promoviert mit einer Arbeit über Ludwig Klages und die Tradition des charakterologischen Denkens. Leo hat sich Zeit gelassen für seine Familiengeschichte über den Nazigroßvater Friedrich, Werder Bremen und Goethes Farbenlehre, während Katja Petrowskaja nach dem Bachmannpreis eiligst ihr Buch beendete, noch im Januar daran schrieb.
Souverän, durchaus
Ihr Vielleicht Esther zeigt, wie jemand haltlos hastet, nach Worten sucht, um seine Sprache ringt, Leos Flut und Boden sitzt derweil im Sessel und erzählt mit ironischer Distanz von Täterschaft. Hier steht die Narration parat. Noch die schlimmsten Erlebnisse lassen sich gemächlich in den Fluss persönlicher Ich-Findung integrieren. Bei der Suche nach Vergangenem erfährt ein junger Historiker, warum der rassenfanatische Opa Butterkuchen ausgelobt hat für jeden Enkel, der über 1,80 Meter wächst. Und „wenn sie gegessen haben, setzt sich der Vater an den Schreibtisch, raucht einen Zigarillo und erledigt die Post, wodurch eine behagliche Stimmung entsteht“. Irgendwann endet Motörheads Songtext zu Killed by Death mit dem flotten Kommentar: „R.I.P. Schutzstaffel boy.“ Es soll eine weitere „Familiengeschichte von elementarer Kraft, die die Verheerungen und Brüche des 20. Jahrhunderts spiegelt“ (Klappentext) sein. Ja, souverän, durchaus. Aber das sind heute doch nahezu alle Debütanten irgendwie.
Weshalb neben Katja Petrowskaja nur Saša Stanišić ernsthaft im Rennen für den Leipziger Preis bleibt. Vor dem Fest auszuzeichnen wäre ein schöner Twist, nachdem Biller gleichzeitig Stanišić’ Debüt Wie der Soldat das Grammofon repariert gefeiert, und den neuen Roman der Mutlosigkeit bezichtigt hat: Weil er in der Uckermark spielt. Uckermark ist Merkelland und Botho-Strauß-Enklave. Aber es ist keinesfalls der Ort, an dem sich, so Biller, ein Weltstar wie Saša Stanišić um den Speichelleckerpreis für besonders gelungene Integration bewerben sollte.
Vor dem Fest kartografiert ein Dorf, in dem es einen Glöckner gibt, den „Genossen Oberstleutnant“, und eine alte Frau mit ihrer Staffelei, die nachts am aquarellierten Kunsthandwerk sitzt und Fencheltee mit Rum trinkt: „Der Neonazi schläft, so heißt das Bild. Die Fürstenfelder würden ohnehin wissen, dass da ein Neonazi schläft, weil das ist der Rico. Wir haben 1 1/2 Nazis: den Rico eben und seine Freundin Luise. Luise ist ein Halbnazi, weil sie den ganzen Scheiß nur Rico zuliebe macht.“
In Fürstenberg, Fürstenfelde, Fürstenwalde, Fürstenwerder und Prenzlau hat Stanišić für dieses unfassbar komische Buch recherchiert, in „Heimatmuseen, Heimatstuben und Heimatvereinen“. Passagen in schönstem Goethedeutsch und Fabeln von der Fähe, die den nächsten Eierklau im Hühnerstall plant, wechseln mit schnoddrigen Allerweltsdialogen und perfekt imitiertem Barock: „Im Jahr 1589, zu Annenfeste, hat sichs zugetragen, daß dem hiesigen Krüger, Ulrich Ramelow, die Frau abhanden gekommen, und er an ihrer statt eine andere bekommen, die er gleichwol nicht wolte behalten.“
Vor dem Fest ist ein grandioses Buch, das changiert zwischen Heinrich Wittenwilers Bauernschwank Der Ring, Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch, den Lyrics von „The Streets“ und Moritz von Uslars rüdem Deutschboden. So lässig schreibt nur, wer um seine Könnerschaft weiß und nichts auf Maxim Billers Regelpoetik gibt. Diese Literatur lebt. Zum Arzt geht heuer nur, wer der German Angst verfallen ist. Jan Drees
Preis der Leipziger Buchmesse
Anerkennung Der renommierte Preis der Leipziger Buchmesse steht mit Beginn eben dieser Messe wieder an. Dabei handelt es sich eigentlich um drei Preise. Ausgezeichnet wird seit 2005 ein Literatur-Triptychon aus den Lagern „Belletristik“, „Sachbuch und Essayistik“ und „Übersetzung“ – dotiert sind die Kategorien mit jeweils 15.000 €. Am ersten Messetag gibt die Jury – eine siebenköpfige Brigade aus Kritikern und Fachleuten – ihre Entscheidungen be-kannt. Der Preis zielt nicht auf bereits erfolgreiche Bücher, sondern auf Neuerscheinungen ab.
Zu den Preisträgern gehören Terézia Mora (2005 für Alle Tage), Ilija Trojanow (2006 für Der Weltensammler), Clemens Meyer (2008 für Die Nacht, die Lichter), Sibylle Lewitscharoff (2009 fürApostoloff), Ulrich Blumenbach (2010 für die Übersetzung vonUnendlicher Spaß), Wolfgang Herrndorf (2012 für Sand). Letztes Jahr be-kamen einen Preis: Helmut Böttiger mit seinem Sach-buch Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, David Wagner für sein Buch Leben und Eva Hesse für ihre Ezra-Pound-Übersetzung. TOT
Am Ende schmeißen wir mit Gold Fabian Hischmann Berlin Verlag 2014, 256 S., 18,99 €
Flut und Boden Per Leo Klett-Cotta 2014, 348 S., 21,95 €
Das Blutbuchenfest Martin Mosebach Hanser 2014, 448 S., 24,90 €
Vielleicht Esther Katja Petrowskaja Suhrkamp 2014, 286 S., 19,95 €
Vor dem Fest Saša Stanišić Luchterhand 2014, 320 S., 19,99 €
Jan Drees, geb. 1979, ist Rezensent und schreibt den Blog LesenMitLinks.de. Er arbeitet an einer Dissertation über „Systeme als Strukturmerkmal im Prosawerk von Hartmut Lange“
Preis der Leipziger Buchmesse
Der renommierte Preis der Leipziger Buchmesse steht mit Beginn eben dieser Messe wieder an. Dabei handelt es sich eigentlich um drei Preise. Ausgezeichnet wird seit 2005 ein Literatur-Triptychon aus den Lagern „Belletristik“, „Sachbuch und Essayistik“ und „Übersetzung“ – dotiert sind die Kategorien mit jeweils 15.000 €. Am ersten Messetag gibt die Jury – eine siebenköpfige Brigade aus Kritikern und Fachleuten – ihre Entscheidungen be-kannt. Der Preis zielt nicht auf bereits erfolgreiche Bücher, sondern auf Neuerscheinungen ab.
Zu den Preisträgern gehören Terézia Mora (2005 für Alle Tage), Ilija Trojanow (2006 für Der Weltensammler), Clemens Meyer (2008 für Die Nacht, die Lichter), Sibylle Lewitscharoff (2009 für Apostoloff), Ulrich Blumenbach (2010 für die Übersetzung von Unendlicher Spaß), Wolfgang Herrndorf (2012 für Sand). Letztes Jahr be-kamen einen Preis: Helmut Böttiger mit seinem Sach-buch Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, David Wagner für sein Buch Leben und Eva Hesse für ihre Ezra-Pound-Übersetzung. TOT
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