Was ist eigentlich von einer literarischen Nominierungsliste zu halten, die das Beste der vergangenen Monate versammeln will, auf der aber zwei der stärksten Veröffentlichungen dieses Frühlings nicht vertreten sind? Sowohl Planet Magnon von Leif Randt als auch der gewaltige 800-Seiter Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 von Frank Witzel sind ausgeschieden, bevor es richtig losgehen konnte. Stattdessen hat es Zeiden, im Januar, der verunglückte Debütroman der gebürtigen Siebenbürgin Ursula Ackrill, auf die Kurzliste geschafft.
Gut, der Einstieg ist gewaltig: Ackrill erzählt von einer Bauerntochter, die von zwei Männern umworben wird. „Einer war reicher, der andere ärmer, aber sie gefielen ihr beide gut. Der Ärmere vielleicht ein bisschen besser. Nein, der Ärmere entschieden besser.“ Doch die Eltern entscheiden, sie habe den Reicheren zu heiraten. Nach der Trauung passiert ein Unglück. Die Bäuerin erstickt an einer Speckschwarte, wird unter großer Anteilnahme bestattet, dann aber von zwei Studenten exhumiert, die scharf sind auf die Goldzähne. Plötzlich wacht die Totgeglaubte wieder auf. Sie lebt, wurde lebendig begraben, und taumelt nun verwirrt zu ihrem reichen Gatten. Der aber schickt sie weg. Es kommt, wie es Fabeln verlangen: Ausgerechnet der arme Freier nimmt sie auf.
Ein Rätsel
Schnitt. – Schon ist man in einem Eisenbahnwaggon, der Rekruten im Jahr 1941 von Siebenbürgen nach Wien transportiert, wo sie für eine SS-Division ausgebildet werden sollen. Die Geschichte von der Bauerntochter ist der fabelhafte Anfang eines nun überbordend orchestrierten Romans, der zum Glück ein Personenverzeichnis hat. Anders wäre dem Plot in diesem vor- und zurückspringenden Buch kaum zu folgen. Offensichtlich will Ackrill ein multikulturelles Kaleidoskop des rumänischen Leidens vom 19. Jahrhundert bis in die 1940er Jahre schildern. Doch kommt sie nie wieder an die erzählerische Meisterschaft der ersten Seiten heran. Die Aufnahme des Romans auf die diesjährige Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse, der am 12. März vergeben wird, ist ein Rätsel.
Nicht viel anders ist es beim einstigen Hausbesetzer Michael Wildenhain aus Berlin, der mit Das Lächeln der Alligatoren einen RAF-Roman präsentiert. Erzählt wird in drei Lebensabschnitten von Matthias, der zu Beginn seine Ferien auf Sylt verbringt und sich dort, Anfang der 1970er, in die drei Jahre ältere Marta verliebt. „Warum bin ich nicht erwachsen, denkt der Junge. Oder wenigstens sechzehn.“ Matthias ist verzweifelt, auch weil er als Kind Mitschuld trug an einem Unfall, der seinen Bruder geistig behindert zurückließ. Von steten Schuldgefühlen geplagt, entwickelt sich der Junge zum schamhaft-verkniffenen Beobachter, der sogar seine alleinerziehende Mutter beim Sex observiert.
Sein Vater hat sich davongemacht: „Ungern und dennoch deutlich erinnere ich mich an einen Vater, der den Zustand meines Bruders später nicht mehr ertragen konnte und uns verlassen hat. Ich wäre ihm gern gefolgt.“ Ich wäre. Ich hätte. Ich würde. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Wildenhain dem Roman folgenden Satz von Per Olov Enquist vorangestellt hat: „Es sind die Faulen und Unfähigen, die die Welt als Chaos erleben.“
Das wird noch einmal deutlich im zweiten Teil des Romans. Matthias ist von seinem Onkel großgezogen worden, einem Medizinprofessor. Es ist 1977. Der Deutsche Herbst steht bevor. In hoch politisierter Stimmung trifft Matthias erneut auf Marta, die ein kühleres Wesen bekommen hat. Mögen die Namen der beiden phonetisch ähnlich klingen – lebensweltlich existiert keine Nähe, selbst als sich die beiden näherkommen. Marta will sich nur an den Ziehvater heranschleichen, der als Kommissionsangehöriger verantwortlich gemacht werden soll für den Hungertod des RAF-Terroristen Holger Meins. Es kommt zum Mord. Und Matthias ist erneut schuldlos schuldig geworden.
Michael Wildenhain bewegt sich als Zeitgenosse und Chronist sicher durch die Jahrzehnte, die aber hier und da besser im Text verankert worden wären. Viele Ereignisse stehen im luftleeren Raum und bekommen erst dann Plausibilität, wenn der Leser die nicht direkt chronologisch erzählten Episoden blitzschnell einzuordnen weiß. Für einen Preis wird das wohl zu wenig sein.
Nach dem ungleichen Paar Marta und Matthias stellt die Wienerin Teresa Präauer die ebenfalls alliterierenden Freunde Johnny und Jean vor. Der eine ist Draufgänger und macht schon als Bub Salti vom Drei-Meter-Sprungbrett. Der andere traut sich vom Einer bloß den Kopfsprung und verliert beim Untertauchen beinahe seine Badehose. Johnny wird beklatscht, Jean ignoriert. Dieses Prinzip setzt sich fort, als beide Bildende Kunst studieren. Sie freunden sich an, und Jean, der eigentlich ganz anders heißt, bekommt vom Star des Jahrgangs diesen französisch klingenden Namen verpasst. Johnny reüssiert.
Johnny arbeitet an seinem Œuvre, baut gigantische Installationen, verführt die schönsten Studentinnen. Jean aber bildet sich ein, Salvador Dalí und Marcel Duchamp wären zu Besuch. Vermutlich bildet er sich auch diese Freunschaft ein. In kurzen Sequenzen rauscht ein imaginierter Film vorbei, in einem poetischen Buch, das trotz seines Spiels mit Realität und Fiktionen schlüssig bleibt.
Ein Spiel, das aber von der Realität eingeholt wird bei Norbert Scheuers Die Sprache der Vögel. Der Held, auf den schönen Namen Paul Arimond hörend, landet im Jahr 2003 als Bundeswehrsanitäter in Afghanistan. Mit der Beobachtung von Vögeln lenkt er sich so lange vom Grauen ab, bis er scheinbar verschwindet hinter seiner Obsession.
Die Sprache der Vögel verbindet auf fein gesponnene Weise die ausnahmsweise zahme Natur mit einer kriegerischen Zivilisation. Den Dingo-Geländewagen und Luchs-Spähpanzern gegenübergestellt sind hier Wildbienen, Schildkröten, Geckos und, wie könnte es bei dem Titel auch anders sein: Vögel, sehr viele Vögel. Moabsperlinge, Rötelschwalben, Mauersegler, Bülbüls und etliche mehr.
Es ist ein toller Einfall, den martialischen Fluggeräten, den Drohnen und Raketen, diese stille Vogelwelt entgegenzustellen. Der Krieg ist präsent in Norbert Scheuers Buch – aber bedeutsamer erscheint das, was der Held dem entgegenzustellen weiß: seine Vogelzeichnungen, seine Notizen, die Lektüre von Goethes Dichtung und Wahrheit. Dennoch: Die große Erzählung zur Stationierung der deutschen Soldaten ist auch dieser Roman nicht.
Auch kein großer Wurf
Da kann man zur Lyrik umschwenken, zu Jan Wagner, dessen Regentonnenvariationen oft als versgebundene Kleinsterzählungen gelesen werden können (siehe auch Freitag 49/2014), wie in seinem Stück „aus der globusmanufaktur“: „einmal verlegte ich mein pausenbrot / in einer südhalbkugel, die noch einzeln / und offen war.“
Jan Wagner ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker einer seit Jahren gut funktionierenden Szene – woran er selbst mit seinen Lyrik-von-jetzt-Anthologien Verantwortung trägt. Die Gattung ist hierzulande präsent. Verkauft sie sich auch gut? Es geht. Aber darum geht es nicht.
Was zählt, sind Momente wie in Wagners „versuch über mücken“, wo die lyrische Form ein zierliches Bild einbettet: „als hätten sich alle buchstaben / auf einmal aus der zeitung gelöst / und stünden als schwarm in der luft“. Das ist so fein herausgearbeitet, dass einem nur die Empfehlung bleibt, ein Gedicht pro Tag zu lesen, um jede Mücke einzeln einzufangen und summen zu hören. Und es wäre bestimmt auch nicht verkehrt, Jan Wagner den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 für Belletristik zu verleihen.
Shortlist
Zeiden, im Januar Ursula Ackrill Wagenbach 2015, 256 S., 19,90 €
Johnny und Jean Teresa Präauer Wallstein 2014, 208 S., 19,90 €
Die Sprache der Vögel Norbert Scheuer C. H. Beck 2015, 238 S. mit 24 Abbildungen, 19,95 €
Das Lächeln der Alligatoren Michael Wildenhain Klett-Cotta 2015, 242 S., 19,95 €
Regentonnenvariationen Jan Wagner Hanser 2014, 112 S., 15,90 €
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