„Es gab kein Fernsehen“

Im Gespräch Anlässlich des Völkermordes in Ruanda vor 20 Jahren wird Milo Raus Theaterstück „Hate Radio“ nun als Film gezeigt. Der Regisseur erzählt über den Sender RTLM
Ausgabe 14/2014

Am 6. April jährt sich der Völkermord in Ruanda zum 20. Mal. Zwischen April und Mitte Juli 1994 verloren circa 800.000 bis 1.000.000 Menschen ihr Leben, als die ruandische Hutu-Mehrheit Jagd auf die Tutsi machte (siehe auch Zeitgeschichte, S. 12). Eine besondere Rolle bei diesem Genozid spielte der ruandische Pop- und Propagandasender Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM). Seine Moderatoren hatten das Schlachten mit einer langen Kampagne vorbereitet. Jetzt wird Milo Raus Dokumentarfilm Hate Radio im Fernsehen gezeigt. Er basiert auf seinem gleichnamigen Theaterstück und jüngst im Verbrecher Verlag veröffentlichtem Doku-Material.

Der Freitag: Wie kann ein Radio ursächlich für den Völkermord an nahezu einer Million Menschen verantwortlich sein?

Milo Rau: Anders als die Staatsmedien hat RTLM auch westliche Musik gespielt, dazu angesagte kongolesische Songs. Es war ein interaktives Medium, man konnte anrufen und es gab Formate für alle Bevölkerungsschichten. Viel wichtiger war aber, dass es zum Zeitpunkt des Genozids weder Zeitungen mit einer erwähnenswerten Auflage noch einen ruandischen Fernsehsender gab. Radioempfänger waren billig, vor dem Genozid wurden sie sogar gratis verteilt. Als während des Genozids auch noch das Telefonnetz zusammenbrach, war das RTLM die einzige Quelle für Informationen.

Wer hat das Radio finanziert?

Das Radio galt als privat und unabhängig, wurde aber indirekt vom ruandischen Staat finanziert – auf der Liste der Aktionäre finden sich mehr oder weniger alle Figuren, die bei der Vorbereitung, Planung und Durchführung des Genozids später eine Rolle spielen sollten.

In dem „Hate Radio“-Buch steht: „Der Massenmord war Handarbeit und geschah im Schichtdienst: Junge Männer standen früh auf, stärkten sich mit Grillspießen und Bier, brachten ihre Macheten oder altertümlichen Jagdwaffen mit.“ Wie groß war der kulturelle Unterschied zwischen den Machern des Radios und seinen Hörern?

Die Stärke des Radios bestand gerade darin, dass es zu allen sprach und zu jeder Gruppe auf ihre Weise: zu den Gläubigen mit Bibelzitaten, zu den Intellektuellen und den NGOs mit historischen Vergleichen und langen Reportagen über die neuesten UNO-Resolutionen. Zur urbanen und ländlichen Jugend mit guten Jokes und grotesken Alltagsgeschichten, zum Mittelstand mit News von der Front.

Das Moderatorenteam war sehr heterogen. Es gab den weißen Pseudo-Intellektuellen aus Belgien, der die Tutsi mit Hitler verglich. Ebenso die mit Emotionen spielende und auf tote Kinder verweisende Ruanderin, die hetzte. Was hat diese Figuren miteinander verbunden?

Nichts außer dem Radio – und nach einer gewissen Zeit natürlich Freundschaft. Im Grunde wurden sie gecastet wie eine Boygroup, sie kannten sich vorher nicht und ihre Wege trennte sich nach dem Ende des Genozids für immer.

War den Moderatoren bewusst, dass sie gerade den Soundtrack zu einem Genozid liefern?

Selbstverständlich, nur dass sie es Résistance genannt hätten: Widerstand, Kampf für Black Power und Demokratie.

Eine sehr seltsame Figur ist der Belgier Georges Ruggiu. Was macht ein Weißer im ruandischen Radio des Jahres 1994, also 32 Jahre, nachdem die UN-Mandatsmacht Belgien das Land an seine Bewohner zurückgegeben hat?

Ruggiu lernt in Belgien durch Zufall junge Hutu-Studenten kennen, die ihm die politische Situation in Ruanda aus ihrer Perspektive schildern. Das heißt: Die Tutsi wollen angeblich die Monarchie wieder errichten. Wer sie bekämpft, kämpft also für die Demokratie und die Unabhängigkeit des Landes. Tragischerweise hatte die Bevölkerungsminderheit der Tutsi tatsächlich während der Kolonisation mit den Belgiern nach dem Prinzip divide et impera kollaboriert. Das Ende der Kolonisation fällt zusammen mit dem Ende der Monarchie, der Flucht des Tutsikönigs und dem Beginn der von Hutus dominierten Demokratisierung Ruandas – die natürlich in Wahrheit eine Diktatur des nördlichen Teils über den südlichen ist, weshalb der Genozid im Süden auch erst einen Monat später, nach dem Einschreiten des Militärs, begonnen wurde. Aber wie auch immer: Ruggiu glaubt an diese Version der Geschichte, er sieht sich als Kämpfer für die Demokratie. Dazu kommt, dass er schon bei seinem ersten Besuch in Ruanda Eingang findet in die High Society, auch wenn dies natürlich nur aus Kalkül geschieht.

Wie kann man die Sprache, derer sich die Moderatoren bedienten, beschreiben?

Kinyarwanda ist eine äußerst metaphernreiche Sprache. Dieser Metaphern bedient sich auch das RTLM, mischt darin aber Fäkalausdrücke und äußerst gewalttätige, zynische Scherze. Die Tutsi werden ja „Kakerlaken“ genannt. Auch hier war es der Cocktail aus allen möglichen Levels – von biblischer Sprache und hoch analytischen Beiträgen bis zu pubertären Scherzen –, der die Wirksamkeit des Senders ausmachte.

Ist denn tatsächlich belegt, dass RTLM den Genozid begünstigt hat?

Es gibt direkte Anweisungen im RTLM – Hinweise auf Häuser, in denen sich Tutsi versteckten oder die Nennung von entsprechenden Autonummern –, der Hauptanteil des RTLM am Genozid liegt aber darin, dass überhaupt vom Genozid offen (und in offener Weise) gesprochen wurde: Dadurch wurde er legitimiert, normalisiert, fast banalisiert.

Kann man RTLM mit den Soldatensendern beispielsweise in Vietnam vergleichen?

Formattechnisch wohl schon: Die interaktive Vermischung von nihilistischem Lebensstil, Pop Culture und anderem ist sehr ähnlich, ein Sender von Soldaten für Soldaten, von extremistischen Hutus für extremistische Hutus ...

In welcher Weise haben Sie Informationen zusammengetragen und zu Film, Buch, Theaterstück und Hörspiel verarbeitet?

Viele Interviews, Recherchen in den Archiven und vor Ort. Dann ein längerer Literarisierungsprozess, in dem sich Fakten und Fiktion vermischte. Dann die Proben, und schließlich die Aufführungen vor Ort.

Im Film lachen Sie mit Bemeriki, einer Moderatorin, die im Studio damals metaphernreich gegen die Tutsi gehetzt hat und nun im Gefängnis sitzt. Wie schwierig war es, dieser Frau gegenüberzutreten?

Das geht schon, es ist ja mein Beruf. Natürlich war ich beim ersten Mal ein wenig nervös. Vor allem, weil die Familie meines ersten Übersetzers auf einen Radiohinweis von Bemeriki hin ermordet wurde. Zu dem Zeitpunkt, den man im Film sieht, kannte ich Bemeriki schon seit etwas mehr als einem Jahr, ich habe sie für die Recherchen öfter im Gefängnis besucht.

Sie haben „Hate Radio“ auch in Ruanda aufgeführt. Die Zuschauer standen auf der Straße vor dem alten RTLM-Gebäude, hielten kleine Radios in den Händen und hörten Ihre Inszenierung in dem nach-gebauten Studio. Wie waren die Reaktionen?

Das war 2011. Die Reaktionen waren unterschiedlich: Einige haben geweint, einige haben sich an die Zeit erinnert, als sie selbst RTLM hörten – in ihren Verstecken, an der Front, in den angrenzenden Ländern. Einige der Jugendlichen haben zu den Songs im Radio getanzt oder eher mit den Füßen gewippt.

Welche Konsequenzen gab es für die Macher des Radios?

Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda wurde ins Leben gerufen, wie danach für Serbien. Die Haupttäter wurden gefasst, darunter auch Georges Ruggiu. Es gab einen speziellen Prozess für die sogenannten „Hate Media“: Das RTLM und eine extremistische Hutu-Zeitschrift, Kangura. Bemeriki wurde von den Gacacas abgeurteilt, den Dorf-Gerichten, für einen Mord an einem jungen Mädchen. Sie alle aber hatten das Glück, dass sie erst nach Abschaffung der Todesstrafe gefasst wurden, außer Moderator Kantano, der höchstwahrscheinlich bei der Auflösung der Flüchtlingslager durch die ruandische Armee 1996 erschossen wurde.

Hat das Radio heute überhaupt noch diese Macht? Könnte sich „Hate Radio“ wiederholen?

Das denke ich nicht – die Situation war, medientechnisch gesehen, eine absolute Novität, es gab ja nichts außer Radio. Es müssten nun alle Medien, auch das Internet, zusammenarbeiten, um diesen Einfluss zu gewinnen. Aber immer noch ist natürlich Radio das wichtigste Medium in Ruanda, sogar das Fernsehen wird oft eher als Radio genutzt.

Das Gespräch führte Jan Drees

Hate Radio Milo Rau Verbrecher Verlag 2014, 256 S., 18 €

Hate Radio. Der Völkermord in Ruanda wird am 6. April um 11.55 Uhr auf SRF 1 ausgestrahlt, am 10. Mai dann auf 3sat

Milo Rau, geboren 1977 in Bern, ist Leiter des International Institute of Political Murder, das mit Theater, Aktionen und Filmen historische oder gesellschaftliche Konflikte bearbeitet. Zum Beispiel: Die letzten Tage der Ceausescus , Breiviks Erklärung. Der Regisseur arbeitet am Maxim-Gorki-Theater Berlin, Staatsschauspiel Dresden, HAU Berlin u.a.

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Geschrieben von

Jan Drees

"When there's nothing left to burn – you have to set yourself on fire!"Literatur, Gesellschaft, Pop: Von Aebelard bis Stefan Zweig

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