Es war einmal im Netz

Demokratie Unsere Kultur des Streits ist kaputt. Davon legen wir täglich digital Zeugnis ab. Wie konnte es dazu kommen?
Ausgabe 45/2020

Hatespeech, Cancel Culture, Shitstorms – wenn man liest, was alles über die Debattenkultur im Netz geschrieben wird, könnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass etwas grundlegend falsch läuft in der digitalen Kommunikation. Und vielleicht stimmt das sogar. Nur unter Umständen anders, als man denkt.

Als in den nuller Jahren Social Media, damals noch liebevoll Web 2.0 genannt, an Fahrt aufnahm, waren die Hoffnungen groß, damit könne eine Revolution einhergehen, nichts weniger als die Demokratisierung der Produktionsmittel stand an, und Vordenker*innen wie Clay Shirky proklamierten, dass Publishing kein Job, sondern nur mehr ein Button wäre.

Es waren hoffnungsvolle Jahre. Eine gewisse Goldgräberstimmung machte sich breit, und alles, was meinte, eine Meinung zu haben, die nun auch endlich die angemessene Geltung bekommen sollte, legte sich ein Blog und zig Profile auf Plattformen zu, die so schnell auftauchten, wie sie wieder verschwanden. Auch der Freitag schickte sich an, die „größte Redaktion Deutschlands“ aufzubauen, und verpasste sich „die Community“, um mit seinen Leser*innen und denen, die dies werden sollten, auf Augenhöhe debattieren zu können.

Das Glücksversprechen

Von klassischen Medien und Politik zunächst belächelt, entwickelte sich in der vermeintlichen Outskirts des Internets etwas, dessen Glücksversprechen darin bestand, denen eine Stimme zu verleihen, die bis dahin keine hatten, und jene reich zu belohnen, die mit Witz, Schläue oder Beharrlichkeit – im besten Fall in Kombination – ihre Claims absteckten. Nicht zuletzt speiste sich dieses Versprechen aus der von jeher gleichen Logik sozialer Netzwerke, nämlich die Ausspielung der Inhalte, die sich einer gewissen Beliebtheit erfreuten, weiter und weiter zu verstärken – so lang, bis sie über die Grenzen der Netzwerke hinaus hörbar wurden. Einerseits lag darin eine Chance. Andererseits war diese Art eines neuen Meinungsmarkts völlig unreguliert.

Plattformen traten derweil nicht an, um fruchtbare Debatten hervorzubringen, gesellschaftliche Probleme zu lösen oder die Welt zu einer besseren zu machen. Sie traten an, um rentabel zu werden – mitunter nicht einmal in dem Feld, aus dem sie ursprünglich stammten. So waren etwa Twitter, Facebook und Youtube schnöde, aber webbasierte Kurznachrichtendienste, Studentenverzeichnisse oder Videoplayer – lang bevor sie „social“ wurden. Diese Unternehmungen suchten wirtschaftlichen Erfolg – oder wurden von größeren Firmen gekauft und auf Erfolg getrimmt.

Um in diesem Rennen zu bestehen, führte kaum ein Weg an dem Euphemismus „sozial“ vorbei. Einerseits um die Verstärkereffekte selbst nutzen zu können. Andererseits um Daten zu sammeln und zu verwerten, die Nutzer*innen ihnen im Gegenzug für einen vorgeblich kostenlosen Service zur Verfügung stellten. Und das Rennen war heiß, ging es doch um nichts weniger als um einen der wenigen Plätze in der vordersten Reihe. Denn auch für Unternehmen hielt das Netz ein Glücksversprechen parat: The winner takes it all.

Die Wahrheit ist wenig wert, wo die Lüge Profit verspricht

Das musste neben vielen anderen auch der Freitag lernen. Die Musik spielte nicht mehr in den Kommentarspalten unter den Beiträgen der Medienhäuser, sondern in den sozialen Medien selbst, weil es sich dort breiter und barrierefreier diskutieren ließ. Einerseits war die Sichtbarkeit der eigenen Gedanken dort potenziell größer, und andererseits hatte beinahe jeder einen Account bei Twitter, Facebook oder Google – aber eben nicht beim Freitag.

Wo also Märkte früher für die Konsument*innen arbeiteten, wenn die Konkurrenz groß war, taten sie dies im Netz, wenn Skaleneffekte die besten Preise, die meisten Likes oder die größte Reichweite abwarfen. Für die frischgebackenen Monopolisten gab es nichts Schöneres, als scheinheilig behaupten zu können, sie täten es für das Gemeinwohl.

Es sollte dementsprechend wenig verwundern, dass, als es in den Netzwerken zu gären begann, wenig dagegen getan wurde. Worüber sich diejenigen, die sich als ursprüngliche Population dieser Plattformen verstanden, empörten, als sich Rassismus, Sexismus, Verschwörungstheorien und allerlei Hass unüberhörbar ausbreiteten, das bedeutete für die Betreiber selbst – nicht zuletzt auch wegen der lauten Gegenrede – vor allem: mehr Klicks, mehr Daten, mehr Geld.

Die Wahrheit ist wenig wert, wo die Lüge Profit verspricht. Und so ließen die Netzwerke das toxische Treiben im Namen eines zur Unkenntlichkeit pervertierten Freiheitsbegriffes gewähren, während sich Medien und Politik unbeholfen der Logik des ehemals belächelten Meinungsmarktes unterwarfen. Der wirtschaftlich angeschlagene Journalismus begann, sich mit vermeintlich starken Meinungen zu konsolidieren, und Parteien glaubten, dem Volk nun endlich ganz genau aufs Maul schauen zu können. Und da man sich im Anschluss passgenau Gehör verschaffen wollte, wurden sie dabei von jenen Hehlern flankiert, die sie erst scharfgemacht hatten und für ein paar Penny mehr bereitwillig die Schleusen öffneten, um sie mit Daten und Reichweite zu versorgen.

Wie frei ist Meinung, wenn sie der Logik dieser Systeme folgt?

Wo aber die vorgeblichen Gatekeeper selbst an der Nadel hängen, ist es nicht weit her mit dem demokratischen Diskurs. Wo es keine Anreize gibt, Lösungen zu erarbeiten und konstruktiv zu sprechen, macht sich Zwietracht breit, da herrscht unablässig Provokation und Empörung. Wo Fakten wenig wert sind, werden Debatten mit Lautstärke – also quantitativ und nicht qualitativ – ausgetragen. Und wo man es sich in Echokammern, Filterblasen und Meinungskorridoren mit ein paar Gleich-, aber nicht zwingend Wohlgesinnten ungestört gemütlich machen kann, da gedeiht mitunter, was dem gesellschaftlichen Konsens gefährlich wird.

So oder ähnlich könnte man die vergangenen Jahre des Umfelds erzählen, in dem Diskurs heutzutage stattfindet. Das muss man freilich nicht. Es war schließlich nicht alles schlecht. Auch weil es Bewegungen wie Metoo, Black Lives Matter oder Fridays for Future ohne das Netz nie gegeben hätte. Es hat nicht zuletzt ermöglicht, verkrustete Strukturen aufzubrechen, marginalisierte Stimmen hörbar zu machen und althergebrachte Deutungshoheiten nachhaltig zu erschüttern. Das alles sind Entwicklungen, die bitter nötig waren und sich weder kurz- noch langfristig durch konservative Pappkameraden wie Cancel Culture, Political Correctness noch sonstige diskursive Nebelkerzen werden einfangen lassen.

Trotzdem kann und darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass Debatte heute stattfindet, wo sie durch undurchsichtige Algorithmen, wirtschaftliche und politische Interessen amplifiziert wird. Neutral ist daran nicht viel. Und wie frei kann Meinung wirklich sein, wenn sie – bewusst oder unbewusst – der Logik dieser Systeme folgt? Plattformen und die ihnen inhärenten Mechanismen sind und bleiben als Mittel der Kommunikation ambivalent, gerade weil sie nicht nur Gutes zutage fördern, sondern vermehrt Hass und sehr realer Gewalt Vorschub leisten.

Wo wollen wir reden?

Die Gesellschaft muss sich deshalb fragen, wie sie in Zukunft diskutieren und sich im Netz bewegen will – und vor allem auf welchem Fundament. Etliche Initiativen, etwa gegen Hass im Netz, zeugen von einer zunehmenden Unzufriedenheit mit dem Ist-Zustand. Es ist aber vielmehr Aufgabe der Politik, diese Basis zu gestalten. Appelle an den Einzelnen, das Hoffen auf Bildung und steigende Medienkompetenz werden wenig helfen, solange das Netz nur so von Anreizen wimmelt, sich in Extremen zu verlieren. Genauso werden alle Pläne scheitern, die negieren, dass diese weltumspannenden Systeme existieren und deren Größe ihren Benutzer*innen zu unbestreitbaren Vorteilen gereicht. Nationales Klein-Klein dürfte weder zu nennenswerter Besserung noch brauchbaren Alternativen verhelfen. Globale Probleme bedürfen globaler Lösungen.

Die Bewältigung dieser Mammutaufgabe kann man weder auf Maria Musterfrau noch einen wohlwollenden Netz-Milliardär abwälzen. Es ist an der Politik, irgendwo in diesem digitalen Wilden Westen den Rahmen neu zu stecken, Souveränität – ob nun auf Ebene der Algorithmen, die unser Verhalten maßgeblich beeinflussen, oder gegenüber der Monopolmacht der Betreiber – zurückzugewinnen und die digitalen Plattformen, die unser Debattenverhalten nachhaltig prägen, endlich an die Kandare zu nehmen. Überlässt man Ausgestaltung und Kontrolle weiterhin ausschließlich den Betreibern, dürfte der Erzählung über entfesselte Märkte schon bald ein weiteres wenig erquickliches Kapitel hinzugefügt werden.

Die Demokratie jedenfalls, so zeigt sich dieser Tage wieder, ist ein zartes Pflänzchen. Sie muss gehütet werden, auch im digitalen Raum. Wie das zu bewerkstelligen ist, das wird die Herausforderung der nächsten Jahre sein. Den Fehler aber, Demokratie und Freiheit mit einem neoliberalen Wunderland zu verwechseln, sollte man – gerade in Bezug auf das Netz – nicht immer und immer wieder begehen. Andernfalls droht ein böses Erwachen.

Die Gemeinschaft

Mit dem Relaunch des Freitag 2009 wurde auch die Freitag-Community ins Leben gerufen. Sie sollte ein Ort sein, wo sich RedakteurInnen und LeserInnen auf Augenhöhe begegnen. Die „größte Redaktion Deutschlands“ sollte sie werden, Online und Print miteinander verzahnen. Dazu verpasste sich der Freitag eine Webseite, auf der einerseits kommentiert, aber auch gebloggt werden konnte. Die besten Beiträge sollten ins Blatt. Dieser Anspruch änderte sich mit der Zeit – größtenteils den Produktionsbedingungen unseres kleinen Medienhauses geschuldet –, sodass nur noch selten ein Blogbeitrag seinen Weg in die Zeitung schafft, aber doch einige Print-AutorInnen Community-Mitglieder sind oder waren. Selbst einige (ehemalige) RedakteurInnen taten in der „FC“ ihre ersten journalistischen Schritte. Über die Zeit schrieben in der Community, die Monat für Monat für knapp ein Viertel des Traffics auf freitag.de sorgt, 35.000 Mitglieder 50.000 Beiträge und 800.000 Kommentare.

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Geschrieben von

Jan Jasper Kosok

Online-Chef

Jan Jasper Kosok studierte Wirtschaftswissenschaften in Berlin, verdingte sich im Nachtleben und gründete 2007 mit Teresa Bücker das Blog Knicken // Plakative Platzierungen, welches sich mit Musik und Popkultur beschäftigte. 2009 kam er zum Freitag, um beim Aufbau des Webauftrittes zu helfen. Seit 2011 ist er verantwortlicher Redakteur für Online und Community und hat seitdem mehrere Relaunches begleitet. Er beschäftigt sich mit den sozialen Auswirkungen von zu hohem Internetkonsum und fürchtet sich davor, nicht verhindern zu können, ein alter weißer Mann zu werden.

Jan Jasper Kosok

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