Nerdcore-Netzschau: Gockel vs. Gockel

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Die Firma Euroweb ließ das Blog Nerdcore.de pfänden. Jetzt fragt sich das Netz, ob ein Shitstorm wirklich lohnt, und ist gehemmt – nicht ganz zu Unrecht. Eine Netzschau.

Das fortschreitende Gerangel um das Blog Nerdcore, das laut den deutschen Blogcharts den zweiten Platz des allseits beliebten Rankings einnimmt, fand seine Anfänge in den frühen Mittagsstunden des gestrigen Tages.

So schrieb Johnny Häusler auf Spreeblick in einer ersten, noch recht überraschten Stellungnahme:

“WTF? Euroweb hat sich die Domain nerdcore.de gegriffen? (Vorsicht mit Vermutungen, vielleicht hat René ja auch verkauft!) Ich weiß leider nichts Genaueres, aber wer Nerdcore sucht, der sollte es derzeit besser mit crackajack.de probieren.Spreeblick

Erhellendes brachte wenig später ein Mini-Interview bei den Blogrebellen, in dem René Walter, der Betreiber Nerdcores, sagte:

“Ich wurde im Sommer letzten Jahres von Euroweb abgemahnt weil ich sie als die Arschgeigen bezeichnet habe, die sie sind. Und ich hab mich um die Abmahnung nicht gekümmert. Dafür zahle ich jetzt die Rechnung.Blogrebellen

Bei der alterwürdigen FAZ war zu den Vorfällen Folgendes zu lesen:

“Nachdem sich René Walter diese [Anm.: Eurowebs] Präsentationen - er ist nicht nur Blogger sondern auch Webdesigner - einmal angesehen hat, kam er zu dem Schluss, dass sie „minderwertig“ seien und darunter „unverhältnismäßig viel Schrott dabei“ und sich die Euroweb „mit Dreck eine goldene Nase verdiene“. Für diese Äußerungen hat Euroweb ihn abgemahnt und, als er darauf nicht reagierte, Ende August 2010 ein Urteil vor dem Landgericht Berlin erstritten, um das er sich offenbar ebenfalls nicht kümmerte.“ faz.net

Ferner kündigte Walter an, es würde ein Shitstorm “biblischen Ausmaßes” über Euroweb ergehen, dem er offensichtlich stimmungsvoll entgegen sieht, darf man seinen Aussagen auf Twitter glauben:

“Nerdcore vs. Euroweb. This will be fun.” @nerdcoreblog

Allerdings sind dort auch Auswürfe anderer Gangart zu lesen, wie ein Blick in Walters Timeline verrät.

Euroweb selbst, das sich im Netz mit seinen Gebaren schon in der Vergangenheit nicht nur Freunde gemacht hat, gab sich derweil auf der durch den – augenscheinlich formalrechtlich korrekt erwirkten – Titel “erworbenen” Webseite großzügig:

“In Kürze werden wir die Rechte an der Domain bei Ebay für einen gemeinnützigen Zweck versteigern. Über den Verlauf und das Ergebnis der Versteigerung halten wir Sie informiert und freuen uns schon auf Ihre Kritik! Die Einnahmen aus der Versteigerung gehen zu 50% an Wikipedia und zu 50% an freischreiber e.V..” Nerdcore.de

Damit lag der schwarze Peter anscheinend wieder bei Walter, der sich zumindest Nachlässigkeit im Umgang mit dem langen Arm des Gesetzes vorwerfen lassen musste. Medienwirksam hatte sich Euroweb in die Rolle des vermeintlichen Gönners gehievt.

Die freischreiber jedoch winkten dankend ab, sie würden zwar Geld entgegen nehmen, aber “nicht von jedem”:

“Könnte die Firma Euroweb das Geld aus dem Erlös der Versteigerung der Nerdcore-Domain tatsächlich spenden, so bräuchte sie dafür einen Empfänger, der das Geld auch annimmt. Wir aber haben das Gefühl, dass hier mit ziemlich dicken Kanonen auf zierliche Spatzen geschossen wird. Und davon möchten wir nicht profitieren. Und wir möchten auch nicht, dass sich der Kanonier mit einer Spende an Freischreiber ein moralisches Mäntelchen für eine klassische Überreaktion umhängen kann.” carta.info

Neben den Sympathiewerten des Spenders und der Unwilligkeit der Spendenempfänger – auch bei der Wikipedia regte sich Widerstand – wurde ein weiterer nicht ganz unwichtiger Punkt berührt: die Rechtmäßigkeit des Vorgehens von Euroweb. Diskutiert wurden im Netz hauptsächlich zwei Ansatzpunkte, die das bisherige Vorgehen der Firma zumindest juristisch strittig erscheinen ließen.

So schrieb Udo Vetter auf dem law blog:

“In einem Bericht der Süddeutschen Zeitung klingt es so, als sei Euroweb tatsächlich der Meinung, den gesamten Erlös eines eventuellen Verkaufs von Nerdcore.de behalten (und spenden) zu dürfen. Das bezweifle ich. Alles vom Erlös, das über die Schulden hinausgeht, steht normalerweise dem früheren Domain-Inhaber zu.”

Des Weiteren zur Verhältnismäßigkeit:

“Ich weiß nicht, ob die Firma einen Vollstreckungsauftrag an den Gerichtsvollzieher oder die Kontopfändung versucht hat. Wahrscheinlich hätte ja auch das gereicht, um dem Blogbetreiber von Nerdcore zur Zahlung (oder zu Rechtsmitteln) zu bewegen.” law blog

Netzpolitik zitierte fernerhin einen älteren Heise-Artikel, in dem es heißt:

“Der Kuckuck ist jedoch dann verboten, wenn der Inhaber die Domain zwingend für seinen Job benötigt.”

Und weiter:

“Auch könne eine Internet-Adresse durchaus als einem der Pfändung nicht unterliegendes Arbeitsmittel angesehen werden. Voraussetzung sei aber, dass die Adressen zwingend für den Job benötigt werden. Daran fehlte es aber im vorliegenden Fall, da der Web-Designer unproblematisch und ohne großen Kostenaufwand auf andere Domains hätte ausweichen können.” heise

Ob letztere Voraussetzung im Fall Nerdcore erfüllt ist, dürfte die Geister (der Juristen) scheiden. Zwar könnte Walter – wie er selbst durch die Blume anmerkte – ausweichen, jedoch dürfte die Domain selbst inzwischen einen gewissen Markenwert besitzen, der sich – so sollte man meinen – durchaus positiv auf sein berufliches Tun auswirkt.

Wie auch immer die Sache weiter- bzw. ausgeht, sie hätte im Vorhinein vermieden werden können. Weder hätte Walter den Fortbestand seiner Webseite unüberlegt gefährden, noch Euroweb diese wegen des ausstehenden Betrags pfänden lassen müssen. Schließlich ging es am langen Ende “nur” um einen Betrag von 2000 €. So aber produzierten die Gemüter eine heisse Luft, die den Shitstorm nicht wert ist.

Es drängt sich unweigerlich der Verdacht auf, das Netz wäre dieser Tage wesentlich ruhiger, hätten Vernunft und Verhältnismäßigkeit einen Deut mehr gewaltet – jedoch scheinen die Ventile bereits geöffnet. Anne Roth bemerkte dazu abschließend nicht gänzlich falsch:

“Liebe Gockel, es ist möglich, Abmahnungen scheiße zu finden und trotzdem zu denken, dass [es] klüger ist, auf Schreiben vom Gericht zu reagieren” @annnalist

Randnotiz: Camus wusste es schon immer.

Die letzte Netzschau findet sich hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Jasper Kosok

Online-Chef

Jan Jasper Kosok studierte Wirtschaftswissenschaften in Berlin, verdingte sich im Nachtleben und gründete 2007 mit Teresa Bücker das Blog Knicken // Plakative Platzierungen, welches sich mit Musik und Popkultur beschäftigte. 2009 kam er zum Freitag, um beim Aufbau des Webauftrittes zu helfen. Seit 2011 ist er verantwortlicher Redakteur für Online und Community und hat seitdem mehrere Relaunches begleitet. Er beschäftigt sich mit den sozialen Auswirkungen von zu hohem Internetkonsum und fürchtet sich davor, nicht verhindern zu können, ein alter weißer Mann zu werden.

Jan Jasper Kosok

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