Niemand hat die Absicht, in Bottrop zu wohnen

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Mit einer Mischung aus Erschrecken und Erstaunen stelle ich zur Zeit fest, dass ein Gros von Freunden und Bekannten beinahe allergisch reagiert, wenn man beim Anblick von Formaten wie DSDS, Bauer sucht Frau, Frauentausch oder dergleichen auch nur ansatzweise die Nase rümpft. Man liebt es. Man will es lieben. Reflektion hingegen ist kein gern gesehener Gast auf den heimischen Sofas. Und wenn überhaupt dient sie maximal als Vorwand, trotzdem darüber lachen zu können. Man weiß eh Bescheid.

Erlaubt ist schließlich alles, „diese Leute machen so was ja freiwillig“. Wirklich, tun sie das? Zweifelsohne strampeln die Menschen, die uns dort vorgeführt werden, um jeden Zentimeter Anerkennung. Sie müssen, denn die Gesellschaft selbst - das sind wir, z.B. wenn der Fernseher nicht läuft - würde am liebsten gar nichts mehr von ihnen wissen. In der Regel tut sie das auch. Vergessen werden wollen aber freilich die wenigsten.

Auf der anderen Seite stehen die Sender, die von diesem Strampeln maßgeblich profitieren und aus diesem Umstand ihr Kapital schlagen. Ein Schelm, wer denkt, dort würden Leute hinters Licht geführt. Viel zu lang haben wir unser Verlangen nach einem Gruselkabinett unterdrückt, als dass wir es jetzt gegen gesunden Fremdscham eintauschen würden. Warum auch, "die da" sind wie du und ich. Nur eben etwas schlechter.

Wieso muss man also so sehr daran glauben, dass es in Ordnung ist, über die Minderbemittelten - denn so nennen wir sie politisch korrekt - zu lachen? „Wenn das mal nichts mit dem System zu tun hat“, sangen Blumfeld einst und könnten hier - wenn auch leicht umgemünzt - nicht in Gänze falsch liegen.

Die Protagonisten unserer allabendlichen Unterhaltung sind in gleich zweierlei Falle getappt. Erst in die soziale, dann in die mediale. Die soziale Falle sind unter anderem Phänomene, die gemeinhin und grob unter Hartz4 subsumiert werden können. Was gemeint ist, wenn dagegen demonstriert wird, ist allerdings weniger das Werkzeug Hartz4, als viel mehr die Angst der Mittelschicht in die Armutsfalle zu tappen. Genauso wenig wollen wir in Bottrop wohnen, talentfrei sein oder ein Pferd unseren besten Freund nennen. Dazu später mehr.

Wer jedenfalls Angst hat, muss beruhigt werden. Das hat seit Jahrhunderten System. So wusste man schon im alten Rom, dass das Volk ruhig bleibt, wenn es nur Brot und Spiele bekommt. Letztere haben wir jetzt sogar 2.0. Wir lachen wie eh und je über die anderen: die da unten, die Freaks und die Asozialen, die Abartigen, die Armen und eben die Bauern. Hauptsache, man fühlt sich normal. Das lässt vergessen, dass man trotz Abitur bald auf der anderen Seite der Mattscheibe sitzen könnte. Der Weg ist kurz.


Das letzte bisschen Sinn und Verstand unterliegt so regelmäßig der perversen Erregung, die man verspürt, wenn Single Hartmut sein Pferd Apoll fragt, wie es gilt mit seiner potenziellen Angetrauten Nicole umzuspringen. Das ist verständlich. Es erinnert uns daran, dass unser Pferd Paul heißt und Nicole Isa, Tina und/oder Sarah. Außerdem wissen wir, dass wir besser küssen können. Im besten Fall schwant uns sogar, dass wir sozial so verankert sind, dass wir für Geschlechtsverkehr nicht zahlen müssen.


Daher sind Formate dieser Fasson inzwischen so gefragt, dass man meinen könnte, der Unterschied zwischen einem hirnlosen Zombiekiffer mit Fressflash bei Burger King und Otto Normalverbraucher vor dem TV sei gar nicht so groß. Das stimmt vielleicht auch. Nur haben Gier und Hunger sowohl ein anderes Ziel als auch eine andere Motivation.


Wo das Fleisch herkommt, kümmert indes niemanden.

Edit: Inzwischen hat merdeister einen weiteren Blog zum Thema geschrieben. Er befasst sich mit dem Phänomen Dieter Bohlen.

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Geschrieben von

Jan Jasper Kosok

Online-Chef

Jan Jasper Kosok studierte Wirtschaftswissenschaften in Berlin, verdingte sich im Nachtleben und gründete 2007 mit Teresa Bücker das Blog Knicken // Plakative Platzierungen, welches sich mit Musik und Popkultur beschäftigte. 2009 kam er zum Freitag, um beim Aufbau des Webauftrittes zu helfen. Seit 2011 ist er verantwortlicher Redakteur für Online und Community und hat seitdem mehrere Relaunches begleitet. Er beschäftigt sich mit den sozialen Auswirkungen von zu hohem Internetkonsum und fürchtet sich davor, nicht verhindern zu können, ein alter weißer Mann zu werden.

Jan Jasper Kosok

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