Die Corona-Zahlen steigen wieder. Deutschland steht, wenn alles läuft, wie es zu erwarten ist, am Anfang einer zweiten Welle. Zumindest momentan scheint sich zu bewahrheiten, was Experten schon zum Ende der ersten Welle für den Herbst prognostiziert hatten, selbst wenn es im Vergleich zu anderen Ländern – mitunter in direkter Nachbarschaft – noch relativ gut aussieht.
Nun sollte man meinen, dass man in einem Land, das sich nicht zuletzt gerne als Oberlehrer aufspielt, seine Hausaufgaben gemacht hat und gut vorbereitet in die zweite Phase der Pandemie geht. Die oben erwähnten niedrigen Zahlen stützen diesen Eindruck – gerade aus internationaler Sicht. Nur im Inneren rumort es. Woran liegt das?
Grund dafür dürfte mitunter sicherlich der etwas kopflos wirkende Über- und Unterbietungswettbewerb hinsichtlich anzuberaumender Maßnahmen auf Länderebene sein. Widersprüchliche, teilweise widersinnige Maßnahmen, deren Einhaltung nur selten konsequent durchgesetzt und die häufig schon an den Bundesländergrenzen ad absurdum geführt werden, werfen die EmpfängerInnen der von oben verordneten Pandemieregeln immer wieder vor allem auf eins zurück: die eigene Vernunft.
Dass sich aus dem Mangel an dieser politisches Kapital schlagen lässt, hat wiederum auch die Politik begriffen – und schiebt die Schuld für das Wiederaufbranden der Pandemie nur zu gern den vermeintlich Unvernünftigen zu. Ob es nun andere Bundesländer oder die BürgerInnen selbst sind, die nicht wissen, wie mit ihrer Freizeit umzugehen: Schuld sind immer die anderen. Und die eigenen Hausaufgaben vergessen.
Auch ökonomische und strukturelle Zwänge bestimmen das Pandemiegeschehen
Dabei gibt es durchaus Gründe dafür, anzunehmen, dass das Infektionsgeschehen bei Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Treibens jenen Verlauf nehmen muss, den man jetzt beobachten kann. Es sollte ebenso wenig verwundern, dass eine Pandemie einen Stadtteil wie Kreuzberg mit knapp 15.000 EinwohnerInnen pro Quadratkilometer härter trifft als ländliche Regionen. Nicht zuletzt deshalb werden ExpertInnen nicht müde zu betonen, dass der Kampf gegen das Virus in den Ballungszentren gewonnen wird.
Eine gut vernetzte, mobile Gesellschaft wie die unsere ist zunächst strukturell anfällig für ein Virus wie Corona, speziell in urbanen Regionen. Das spricht einzelne selbstverständlich nicht frei davon, sich verantwortlich zu verhalten und jene zu schützen, die in der Krise Solidarität bitter nötig haben. Trotzdem sind weder Schuld noch Gründe für das Steigen der Fallzahlen ausschließlich auf individueller Ebene zu finden. Dem eigenen Einfluss sind Grenzen gesetzt, die nicht nur durch das Handeln der Mitmenschen, deren Hedonismus und Leichtsinnigkeit, sondern auch durch strukturelle und ökonomische Zwänge bestimmt werden.
Der private Raum ist jedoch der mit der geringsten Lobby. Und er ist flexibel. Den Job an der Werkbank kann man ebenso wenig ins Home Office verlegen wie man einen Ballungsraum mal eben entzerren kann. Bei schlechtem Wetter wird auch das Individualverkehrsmittel Rad wieder unattraktiver, die Bahnen in Richtung Arbeitsplatz hingegen voller. Wer es sich leisten kann, fährt nicht umsonst mit dem Auto. Will man Stillstand hinauszögern – wenn möglich verhindern –, liegt es auf der Hand, Risikobegegnungen zunächst so zu minimieren, dass die Adern der Wirtschaft so lange wie möglich unangetastet bleiben.
Wenn also Jens Spahn sinngemäß sagt, dass „wir“ Verzicht üben müssen, damit Schulen, Kitas und Wirtschaft offen bleiben, mag das einige erzürnen. Er macht sich allerdings auch als einer der wenigen erstaunlich ehrlich. Priorität hat für den Gesundheitsminister augenscheinlich nicht etwa primär der Gesundheitsschutz, sondern das reibungslose Wirtschaften. Um das zu gewährleisten, wird das Private beschnitten – eben weil es geht und keine unmittelbaren ökonomischen Folgen hat. Auch Kitas und Schulen – die immer wieder in Verdacht stehen, sich zu Corona-Hotspots entwickeln zu können – dürften in erster Linie offen bleiben, damit Eltern sich emsig verdingen können. Um Bildung und Kindeswohl – von Gesundheit ganz zu schweigen – scheint es maximal nachranging zu gehen.
Orakelei und Unterstellungen sind nicht zielführend
Diesen Umstand allein mag man schlimm finden. Schwer erträglich wird er allerdings, wenn statt mit Transparenz und Offenheit, die Verantwortung einfordert, mit sich ständig wiederholenden, jedoch nach wie vor statistisch schwer zu belegenden Schuldzuweisungen operiert wird. Es ist klar, dass, sollte die Pandemie weiter an Fahrt aufnehmen, Härten die privaten zuerst und die ökonomischen Bereiche unserer Gesellschaft zuletzt treffen werden – völlig unabhängig davon, welchen Anteil sie tatsächlich am Geschehen haben.
Das nicht klar zu benennen mag zwar kurzfristig opportun sein, es führt jedoch mittelfristig nicht nur bei denen zu Vertrauensverlust, die die Pandemie per se anzweifeln, sondern auch bei jenen, die sich solidarisch verhalten und die Lage ernst nehmen, sich aber verschaukelt oder gegängelt vorkommen. Das könnten neben allein gelassenen Eltern, vom Ruin bedrohten Selbstständigen und unter Dauerbeschuss stehenden Jugendlichen nicht zuletzt auch die sogenannten Systemrelevanten – die PflegerInnen, KassiererInnen und ZustellerInnen – sein, die den Laden zwar am Laufen halten dürfen, davon aber ökonomisch mitunter am wenigsten profititieren werden.
Kommuniziert die Politik jetzt nicht klar die Ziele ihres Handelns, erkennt den strukturellen Charakter der Krise ebenfalls an und bedient sich nicht länger psychologischer Taschenspielertricks, dürfte sie über den Winter hinaus an Glaubwürdigkeit einbüßen. Mit den leidlich bekannten Langzeitfolgen. Ganz ab davon, dass sich die Pandemie selbst mit sozialem Verantwortungsbewusstsein und Lösungsorientiertheit weit besser in den Griff bekommen ließe als mit Orakelei und Unterstellungen – auf privater wie auch auf politischer Ebene.
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