Die Früchte der Gewaltherrschaft

DER ERZÄHLER ALS METAPHER Carmen-Francesca Bancius neuer Roman "Ein Land voller Helden" erzählt von den Versuchen, sich an die so genannte rumänische Revolution zu erinnern

Im Dezember 1989 reisen internationale Journalisten ins nordrumänische Timisoara. Seit Tagen kommt es in der Stadt zu Demonstrationen, gegen die die örtlichen Sicherheitstruppen Schusswaffen einsetzen. Über die genaue Zahl der Opfer gibt es nur Spekulationen. Ceaucescu und seine Clique sprechen von einer terroristischen Verschwörung. Dann werden die Vertreter der Weltpresse auf ein Massengrab aufmerksam gemacht. Es heißt, der Geheimdienst Securitate habe Dutzende von Menschen gefoltert und ermordet. Die westlichen Medien berichten angewidert vom Terrorregime des Ceaucescu, und Bilder der Kadaver im Massengrab gehen um die Welt. Wenige Tage später wird der Diktator in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Aufnahmen seines Leichnams schockieren die Öffentlichkeit und beruhigen gleichzeitig: Der Massenmörder hat sein gerechtes Ende gefunden. Nach ein paar Wochen entpuppt sich das Massengrab von Timisoara als Fiktion. In Wirklichkeit enthielt es Leichen aus den Kühlräumen des städtischen Krankenhauses. Aber der Tross der internationalen Presse ist längst weitergezogen. Und diese Nachricht kaum eine Zeile mehr wert.

Das ist nur ein Beispiel der vielen Merkwürdigkeiten, die den rumänischen Umsturz von '89 begleiteten und den Schluss nahelegen, dass die Revolution manipuliert war und von denselben Kräften in Szene gesetzt wurde, die das Land 40 Jahre lang drangsaliert hatten.

Vor diesem Hintergrund kann der Titel des neuen Romans von Carmen-Francesca Banciu Ein Land voller Helden zunächst nur ironisch verstanden werden. Tatsächlich führt die rumänische Schriftstellerin den Helden-Begriff ad absurdum: "Wir haben ein Land voller Helden. Hatte das Kind gesagt. Und zwei Vaterländer. Das Vaterland von gestern. Und das Vaterland von heute. Die Helden von gestern sind nicht die des Vaterlandes von heute."

Aber Helden in einem emphatischen Sinn kennt das Buch der Banciu schon. Es handelt sich um eine Gruppe junger Leute, die das repressive Regime zusammengeschweißt hatte. Und die den Umsturz zuerst als Befreiung erlebten. Im Abstand von Jahren befragen sie sich dringlich nach dem, was aus ihnen geworden ist, nach ihren enttäuschten Hoffnungen, nach dem Grund ihrer Zerwürfnisse. Denn wo Gemeinsamkeit war, herrschen Zweifel an den anderen und an sich selber. Nicht mal mehr sicher scheint, ob man sich damals wirklich spontan zusammenfand, um gegen die Diktatur aufzubegehren oder ob auch hier Manipulation im Spiel war. "Ihr werdet mir doch nicht sagen wollen, es sei vorprogrammiert gewesen, daß wir uns treffen. Wir hätten präzise Befehle gehabt", beschwört die sanfte Maria-Maria die Freunde - und ihre Erinnerung.

Nein, Carmen-Francesca Banciu geht es nicht um historische Abläufe. Sie erzählt nicht den Umsturz nach, sondern die inwendigen Prozesse von Menschen, die den Ereignissen eher ausgesetzt waren, als dass sie sie hätten beeinflussen können. Auch mit beispielhaften Anekdoten hält sie sich zurück. Zwar gibt es die Geschichte von einem gewissen Lapusca, der sich an die "Spitze der Massen" stellt und sich selber zum Bürgermeister ernennt. Der den radikalen Bruch mit der Vergangenheit fordert und die Losung ausgibt, man brauche nicht kompromittierte Menschen. Dieser Lapusca, von dem niemand weiß, wie er wirklich heißt, zügelt am Ende die wütende Menge. "Der historische Augenblick muß würdig begangen werden", ruft er den Leuten zu. Lapusca ist der Prototyp des Manipulators, der zur rechten Zeit am rechten Ort dafür sorgt, dass die Revolution eine Farce bleibt.

Man mag bedauern, dass Banciu sich solche Passagen, in denen sie mit bissiger Ironie zu erzählen versteht, eher selten erlaubt. Aber ihr Interesse verlangt eine andere Konsequenz, die sie auch kompromisslos durchhält. Sie hat einen Chor von Stimmen komponiert, aus dem sich nach und nach die Schicksale der ehemaligen Freunde herausschälen. Da ist Toma, der sich noch vor der Revolution zu Tode gehungert hat. Sein Widerstand war die Verweigerung. Da ist Artur, der die Ideale des Kommunismus nicht verraten möchte und auf absurde Weise vor den Verhältnissen kapituliert: Er, der eine Katze vom Baum retten wollte, steigt von diesem Baum nicht mehr herab. Da ist die sanfte Maria-Maria, die die Liebe zu allen Menschen predigt, eine Beschwörerin vergangener Gemeinsamkeiten. Oder Valer, der ins Ausland flüchtet, vorzugsweise nach Berlin, aber innerlich an die Heimat gefesselt bleibt. Varvara, Arturs Freundin, die endlich sie selber werden will, und ans Schicksal des Mannes gekettet bleibt, besonders schmerzhaft mit seinem Tod.

Der Chor von Stimmen erzählt aber weniger diese Schicksale, als dass er sie kommentiert und reflektiert und jede Biographie einer intensiven Befragung unterzieht. Jedes Schicksal steht stellvertretend auch für den, der es berichtet, und wird zum Ausgangspunkt der Selbsterkundung. "Niemand ist schließlich nur er selbst", heißt es an einer Stelle. "Jeder ist die Summe seiner Geschichten." Und an einer anderen: "Er glaubt. Er weiß nicht, wer wer ist. Wenn er nicht weiß, wer wir sind. Und wir. Wir sind nicht mehr wir. Wir sind ich." So markiert Carmen-Francesca Banciu die Identität des Freundeskreises noch in seinem Zerfall vor dem Hintergrund der Erfahrung, nicht mit sich selber identisch zu sein, nicht als Einzelner und nicht als Gruppe.

Es handelt sich im Übrigen wirklich um einen Chor von Stimmen, und diese Stimmen kommen vom Band. Aufgenommen hat die Freunde der Journalist Radu Iosif, der bei einer Zeitung mit dem pathetischen Namen Aufschrei der Freiheit arbeitet. Die Zeugnisse, die Iosif zusammenträgt, sind für die Zeitung allerdings nicht interessant. Der Aufschrei der Freiheit, bekennt Iosif gleich zu Beginn, "gibt sich nicht mit gescheiterten ... Helden ab". Denn: "Die Geschichte braucht Bestätigungen." Radu Iosif hingegen fühlt sich zu den "Gescheiterten hingezogen", vielleicht weil er selbst zu ihnen gehört.

Dieser Radu ist das geheime Zentrum des Buches. Er ist es auf zweierlei Weise. Zum einen als Erzähler, der freilich über seine Figuren nicht souverän verfügt: sie kommentieren auch ihn. Mit dieser unsicher gewordenen Funktion des Erzählers, der einräumen muss, dass ihm kein Textgewebe gelingt, sondern "nur ein Netz, durch dessen Maschen das Leben in unwiderbringlichen Tropfen sickert", verbindet sich zum anderen seine Lebensgeschichte, die ihrerseits nach und nach deutlicher wird. Radu Iosif ist nämlich der Sohn einer Monarchistin, die im Securitate-Gefängnis einsaß. Und dort wurde Iosif gezeugt von einem Securitate-Mann. Im wahrsten Sinne des Wortes ist er die Frucht der Gewaltherrschaft.

In Carmen-Francesca Bancius kompromisslosem Buch wird der Erzähler selber zur schmerzhaften Metapher eines Umbruchs, der nicht gelang, einer Wahrheit, die bis heute aussteht, und der Geschichte, die manipuliert wurde.

Carmen-Francesca Banciu: Ein Land voller Helden. Roman. Berlin 2000, Quadriga-Verlag, Berlin. 255 Seiten. 34,-DM

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