Endstation: u-Boot

TYPEN Claudia ist in eine Fabriketage gezogen. Am Rande der Stadt, im vierten Stock einer stillgelegten Brauerei hat sie ihr neues Atelier eingerichtet. ...

Claudia ist in eine Fabriketage gezogen. Am Rande der Stadt, im vierten Stock einer stillgelegten Brauerei hat sie ihr neues Atelier eingerichtet. Sie bräuchte mehr Platz, hat sie mir noch vor drei Wochen gesagt, jetzt lebt sie auf 130 Quadratmetern, und das ist nicht viel. Jedenfalls nicht, wenn man ihren Beruf kennt.

Ich besuche sie, und alles läuft wie immer. Ich klingle, ihr Schnauzer bellt, sie öffnet die Tür einen Spalt, sieht mich - Moment - und lässt mich ein. Sie nimmt die Hände wieder in die Tasche und tut so, als würde sie nach Tabak suchen. Ich kenne das schon, Claudia gibt niemandem die Hand. Das ist nicht persönlich gemeint, halt eine ihrer Künstlermacken. Sie sagt nichts, lächelt nur, und wir gehen durch einen schmalen, spärlich beleuchteten Gang nach hinten. Es riecht ein bisschen nach Linoleumbelag und nach Farben, ein Hauch von Claudias Rosmarinöl ist auch dabei. Ich bin überrascht. Ihr Wohnzimmer hätte ich mir heller vorgestellt. Es ist ein großes Zimmer, wirkt aber winzig, weil an den Wänden Dutzende Särge in allen möglichen Formen und allen möglichen Farben aufgestapelt sind.

Ihre Stimme klingt heute dunkler als sonst: "Na, schon wieder Angst?" fragt Claudia als erstes und lässt sich dabei auf das Sofa unter dem großen Fabrikhallenfenster fallen. Ich nehme den Sessel und reiche ihr den Aschenbecher. "Schmerzen im Brustkorb", sage ich und lache peinlich berührt. Claudia hat so einen durchschauenden, sinnlichen Gesichtsausdruck, dass ich mir in ihrer Gegenwart manchmal wie ein Schuljunge vorkomme. Dabei ist sie nicht einmal viel älter als ich, vielleicht dreißig, zweiunddreißig, aber sie wirkt manchmal so mütterlich. Trotzdem habe ich bei ihr nie das Gefühl, dass sie mich nicht ernst nähme. Das mag ich an ihr. Nur hin und wieder macht sie sich lustig über meine Hypochondrie. Wie jetzt. "Verstehe", murmelt sie und verdreht den Mund dabei. Dann kneift sie die Augen zusammen, überlegt kurz und sagt: "Ich mach schnell Tee für uns."

Ich sitze allein zwischen ihren Särgen. Claudia liebt es, ihren Alltagsgeschichten eine gewisse Dramatik zu verleihen. Als ich sie vor vier Jahren in ihrem Kreuzberger Laden zum ersten Mal sah, hielt sie gleich eine ganze Schar Zuhörer in Atem. Sie erzählte von einem Kunden, der unbedingt in einem Krokodil-Sarg bestattet werden wollte, weil ihn ein Alligator während einer Safari fast ins Jenseits befördert hätte. Claudia erzählte und erzählte, schließlich öffnete sie den Sarg und ließ einige ihrer Gäste darin Probe liegen. Später saß sie auf einem Modell, das aussah wie eine Korbtruhe und spielte nervös mit einer herzförmigen, flokati-überzogenen Urne in ihren Händen. Wie sie da so saß, mit ihrem blassen Gesichtsausdruck und den alienhaft großen, braunen Augen, wirkte sie wie aus einem 20er Jahre Dracula-Film. Claudia bemerkte, dass ich sie anstarrte. Ob ich schon wüsste, wie ich bestattet werden wollte, sprach sie mich an. Zack! Mitten ins Schwarze, ich war völlig platt und beeilte mich zu sagen, dass ich gar nicht sterben wolle. Ich erwartete, dass sie darauf lachen würde, sie lachte aber nicht, und wir unterhielten uns lange über unser Verhältnis zum Tod. Sie meinte, ich hätte Angst entsorgt zu werden und sie könne das verstehen, bei ihrer Mutter wäre das auch so gewesen. Dann erzählte sie mir, dass der Laden nicht nur eine Künstlerlaune sei. Sie habe lange nach einem sinnvollen Neuanfang suchen müssen, seit sie von ihrem Befund weiß.

Wir unterhielten uns noch sehr, sehr lange und weil es spät wurde, verabredeten wir uns für den nächsten Tag zum Tee. Gedanken versunken ging ich nach Hause und verbrachte eine schlaflose Nacht. Seitdem habe ich Claudia immer wieder besucht. Meistens dann, wenn ich, nach einer Phase der Anstrengung, wieder der eingebildete Kranke war.

"Na, hast du dir einen ausgesucht", unterbricht Claudia meine Gedanken. Ich muss die ganze Zeit auf ihr Glanzstück geschielt haben, ein Segelboot-Sarg. Für Seebestattungen. Claudias grazile Gestalt wirkt winzig daneben. Sie stellt das Tablett ab, fährt sich mit der Hand durchs Haar und nimmt einen Stapel Papiere vom Beistelltisch. Darunter liegt eine Mappe, Claudia öffnet sie und entnimmt einige Entwürfe daraus. Sie zögert einen Moment, dann reicht sie mir ein Blatt. Ich erkenne mehrere Zeichnungen darauf, es ist eine neue Konstruktion, diesmal soll es wohl ein U-Boot darstellen. Im Holzrumpf ist ein großes gläsernes Bullauge eingelassen und über dem Einstieg ist ein ausfahrbares Seerohr angebracht. Claudia lächelt: "Für dich."

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