Noch liefert Kanada

Gesundheit Seit 2017 erhalten kranke Menschen Cannabis auf Rezept. Manche kommt das teuer zu stehen
Ausgabe 34/2018

Vormittags irgendwo in Deutschland: Vor Jan liegen Tabak, Grinder, lange Blättchen und ein weißer Behälter. Den öffnet der 29-Jährige, entnimmt ihm eine grün-braune Knospe, zerkleinert diese und mischt sie mit Tabak. Dann dreht er sich einen Joint. Ein süßlicher Duft verbreitet sich im Zimmer, während Jan die ersten Züge der angezündeten Cannabis-Zigarette inhaliert.

Jan kifft. Zwar ist der Konsum in Deutschland nicht strafbar – jedoch alles andere, was damit im Zusammenhang steht. 60 Prozent der 2017 vom Bundeskriminalamt erfassten Rauschgiftdelikte bezogen sich auf Cannabis. Jan hingegen kauft und raucht sein Cannabis völlig legal.

Er profitiert von der im März 2017 in Kraft getretenen Legalisierung von medizinischem Cannabis – Ärzte dürfen nun bei Erkrankungen getrocknete Cannabisblüten und -extrakte verschreiben. Jan besitzt seit Juli 2017 ein Rezept.

Zwölf Joints am Tag

Er war drei oder vier Jahre alt, als bei ihm ADHS diagnostiziert wurde. Heute, 25 Jahre später, schafft er es trotz der Symptome, mit der Erkrankung umzugehen. „Ohne Medikamente kann ich gar nicht zur Ruhe kommen oder mich auf irgendetwas konzentrieren“, sagt er. „Mehr als drei oder vier Stunden schlafen ist dann auch nicht möglich. Das war schon während der Schulzeit ein großes Problem.“ Bis zu zwölf Joints raucht Jan deshalb täglich, um die Auswirkungen seiner Erkrankung in den Griff zu bekommen. „Durch Cannabis habe ich alle diese Probleme nicht. Auch Nebenwirkungen habe ich dadurch keine, wie das bei anderen Medikamenten der Fall war.“ Sein Cannabis bekommt er aus der Apotheke.

Der gesetzlichen Liberalisierung waren mehrere Gerichtsentscheidungen zugunsten Betroffener vorausgegangen. Die Klagenden überzeugten Richter, dass Cannabis ihnen da hilft, wo andere Medikamente keine zufriedenstellende Wirkung zeigen. Der Gesetzgeber befürchtete, dass Gerichte künftig in Einzelfällen den privaten Anbau von Cannabis erlauben, damit die Betroffenen sich selbst therapieren können. So weit sollte es nicht kommen. Im Januar 2017 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, das medizinisches Cannabis als Therapiealternative bei Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen erlaubt.

Nun liegt es im Ermessen des Arztes, ob er Cannabis verschreibt. Einen Ausschlusskatalog von Krankheiten gibt es nicht. Zu Cannabis raten Ärzte vor allem bei chronischen Schmerzen, Spastiken und Multipler Sklerose (MS). Die Verschreibungshöchstmenge liegt bei 100 Gramm für 30 Tage. Wer ein Rezept vom Arzt bekommt, kann bei der Krankenkasse die Übernahme der Kosten beantragen.

Bereits vor der Gesetzesänderung war in Ausnahmefällen möglich, medizinisches Cannabis zu beziehen. Rund 1.000 Personen verfügten über eine entsprechende Genehmigung. Zehn Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes veröffentlichten die Techniker Krankenkasse, die Barmer und die AOK Zahlen, nach denen bereits 13.000 Anträge auf Kostenübernahme bei ihnen eingegangen waren. Laut Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP in der Bremischen Bürgerschaft im Mai dieses Jahres verfügen bundesweit sogar bis zu 14.000 Betroffene über eine Kostenübernahme. Weitere etwa 4.000 Anträge wurden aus verschiedenen Gründen abgelehnt. Branchenkenner rechnen damit, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung von medizinischem Cannabis profitieren könnte – in Deutschland also um die 800.000 Personen.

Doch nicht alle Betroffenen finden einen Arzt, der ihnen bei der Beantragung einer Kostenübernahme hilft. Grund dafür ist meist das sogenannte Praxisbudget der Ärzte: eine Obergrenze für abrechenbare Leistungen. Die hohen Kosten einer Cannabistherapie drohen dieses Budget schnell zu sprengen. In solchen Fällen verschreibt der behandelnde Arzt oft ein Privatrezept. Der Patient muss für die Kosten seiner Medizin dann selber aufkommen.

War medizinisches Cannabis aus der Apotheke vor März 2017 ein sogenanntes Fertigarzneimittel, ist es nun ein Rezepturarzneimittel. Neben der Bezeichnung hat sich dadurch vor allem die Preisgestaltung geändert: Wegen des zusätzlich notwendigen Prüfens, Abwiegens und Zerkleinerns der Cannabisblüten durch den Apotheker ist dieser dazu verpflichtet, einen Festzuschlag von 100 Prozent auf den Einkaufspreis zu erheben. So steht es in der Arzneimittelpreisverordnung. Seit der Gesetzesänderung ist der Preis daher von etwa zwölf auf mehr als 20 Euro pro Gramm gestiegen. Zum Vergleich: Auf dem Schwarzmarkt kostet ein Gramm Cannabis meist acht bis zehn Euro, wobei die Preise regional stark schwanken.

Die Preisexplosion bekommt Christoph zu spüren. Der MS-Patient verfügt seit dem August 2017 über ein Privatrezept. Mehr als 100 Euro pro Woche muss er aufbringen, um sich seine Medizin leisten zu können. Ohne Zuwendungen guter Freunde wäre das für den Hartz-IV-Empfänger nicht machbar. „Für fünf Gramm zahle ich aktuell 125 Euro. Damit komme ich eine Woche aus, wenn ich sparsam damit umgehe.“

Christoph ist trotz seiner Erkrankung ein sehr aktiver Mensch. So oft wie möglich geht er mit den Hunden von Bekannten im Stadtpark spazieren und spielt mit ihnen. Seitdem er durch seine MS-Erkrankung arbeitsunfähig geworden ist, gestaltet er so seinen Alltag. „Ich versuche, mit meiner Zeit etwas Sinnvolles zu machen.“ Für Christoph ist klar: Ohne sein medizinisches Cannabis wäre das nicht möglich.

Alternative Vaporisator

An diesem Tag sind nur wenige Leute draußen unterwegs, es regnet. Anders als Jan, der sein Cannabis rauchend zu sich nimmt, nutzt Christoph einen Vaporisator. Das kleine zylinderförmige Gerät ähnelt einer E-Zigarette. Im Park öffnet Christoph eine Klappe an der Vorderseite des Vaporisators und füllt behutsam Cannabisblüten in die zum Vorschein kommende Kammer. Der Vaporisator erhitzt den Inhalt der Kammer so stark, dass sich Cannabinoide aus den Blüten lösen und durch ein Mundstück inhaliert werden können.

Zwar ist es Cannabispatienten erlaubt, ihre Medizin in der Öffentlichkeit zu sich zu nehmen, aber eine wirkliche Option ist das für die wenigsten. Hier im Park, bei wiederkehrenden Regenschauern, macht Christoph eine Ausnahme und zieht einige Male am Vaporisator. Wären mehr Menschen unterwegs, würde er dies nicht tun. Denn das eine Mal, als er es doch tat, ist ihm ungut in Erinnerung geblieben: „Eine Frau rief mir entrüstet zu: ‚Ich rieche und weiß, was sie da machen!‘ Als ich das Gespräch suchte und ihr mein Rezept zeigen wollte, hat sie mir vorgeworfen, ich sei doch gar nicht krank und das wäre alles nur eine Modeerscheinung.“ Jan berichtet von ähnlichen Erfahrungen: „Ich mache mich im Internet für das Thema stark. Dabei werde ich regelmäßig als Junkie beschimpft.“

Zu schaffen macht manchen Patienten auch die unzuverlässige Verfügbarkeit der Arznei. Aktuell importiert Deutschland das Cannabis zu medizinischen Zwecken vor allem aus Kanada und den Niederlanden. Doch die Lieferungen reichen mitunter nicht aus, um die Nachfrage abzudecken; im Sommer und Herbst 2017 kam es zu Versorgungsengpässen, Patienten warteten teils monatelang auf ihre Medizin.´ Inzwischen, so die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion, decken die Importe wieder den Bedarf.

In Deutschland angebautes Cannabis werde frühestens 2020 verfügbar sein, so das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), dessen „Cannabisagentur“ (der Freitag 10/2017) den Anbau beauftragt. Eine erste Ausschreibung, an der sich 118 Bieter beteiligt hatten, musste das BfArM zurückziehen, weil ein Unternehmen erfolgreich geklagt hatte – nach einer Änderung des Verfahrens sei die verbliebene Frist für Bieter zu kurz gewesen, befand das Oberlandesgericht Düsseldorf. Mittlerweile ist eine neue Ausschreibung veröffentlicht: Es geht um 10.400 Kilogramm Cannabis für einen Vier-Jahres-Zeitraum, zu vergeben in 13 Losen von je 200 Kilogramm pro Jahr. Ein Bieter kann den Zuschlag für bis zu fünf Lose erhalten und ist dann für Anbau, Ernte, Weiterverarbeitung und Lieferung unter Aufsicht der Cannabisagentur zuständig.

Dass die aktuelle Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD die Situation kranker Menschen, denen Cannabis hilft, weiter verbessern werde, glaubt Jan nicht. „Aber vielleicht sind wir in fünf Jahren so weit, dass sich die Situation komplett geändert hat.“

Jan-Malte Hunfeld arbeitet als freier Redakteur und hat zuletzt die Videoreportage Cannabis auf Rezept veröffentlicht

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