Sind es nun die Kinder, oder sind sie es nicht? Vor Wochen noch hatte das Robert Koch-Institut (RKI) festgestellt, Schülerinnen und Schüler spielten bei der Verbreitung des Coronavirus „eher nicht als Motor eine größere Rolle“. Ihre Ansteckungshäufigkeit laufe mit der Entwicklung in der Gesamtbevölkerung mit.
Doch das war, bevor die zunächst in Großbritannien entdeckte, deutlich ansteckendere Virusvariante B.1.1.7 in Deutschland die Mehrheit der Infektionen ausmachte. So verkündete der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach vor dem Wochenende: Durch B.1.1.7 „erreicht die Virusmenge bei Kindern einen kritischen Schwellenwert“, sodass „Kinder so ansteckend sind wie Erwachsene“.
Eine Aussage, die vor der Corona-Spi
or der Corona-Spitzenrunde Angela Merkels mit den Regierungschefs der Länder am Montag zur Stimmung passte. Denn die gemeldeten Neuinfektionen bei Kindern und Jugendlichen heben seit Wochen ab. Bei den unter 15-Jährigen sind sie inzwischen fast dreimal so hoch wie vor einem Monat. In der Gesellschaft insgesamt aber nicht einmal doppelt so hoch. Entsprechend stand in der Beschlussvorlage für Merkel und die Ministerpräsidenten, alle Kitas und Schulen sollten ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner wieder schließen – bis auf die, die es schaffen, alle Kinder und Erwachsenen zuverlässig jede Woche zweimal zu testen.So weit, so vermeintlich eindeutig und konsequent. Doch ist die Realität mal wieder komplexer. Das fängt mit den Corona-Zahlen an: So kräftig diese zwischenzeitlich bei Kindern und Jugendlichen stiegen, die Zahl ihrer Tests stieg noch kräftiger. Während bei den Älteren nicht häufiger getestet wurde. Dennoch hatte das Fall-Wachstum in der Gesamtbevölkerung zuletzt das bei den unter 15-Jährigen fast wieder eingeholt. Wie stark überschätzten die RKI-Zahlen also in den vergangenen Wochen die Dynamik bei den Jüngsten, wie stark unterschätzten sie sie bei den Älteren? Karl Lauterbachs Aussage, die britische Variante mache Kinder jetzt genauso ansteckend wie Erwachsene, würde bedeuten, dass die Mutation sich auf sie überdurchschnittlich auswirkt. Doch gibt es bislang keine internationalen Studien zu B.1.1.7, die dies eindeutig nachweisen.Tests, Tests, noch mehr TestsSchließlich die Verknüpfung von Schulöffnungen mit Tests. Sie wäre auf folgendes Szenario hinausgelaufen: Der Staat, der in der Pflicht steht, das Recht auf Bildung umzusetzen, stellt es unter den Vorbehalt, dass er selbst genügend Tests organisiert. Schafft er das nicht, etwa weil die Pharmaindustrie nicht ausreichend Tests herstellt oder aber etwa Discounter und Arbeitgeber sie ihm wegschnappen, nimmt er dafür die Kinder in Haftung. Zum Glück haben die Regierenden diesen Denkfehler der Beschlussvorlage erkannt und den Passus gestrichen.Nur haben sie die Leerstelle nicht mit zusätzlichem Ehrgeiz gefüllt. Merkel und die Ministerpräsidenten versprachen weder, den Kitas und Schulen bis nach Ostern genügend Tests zu besorgen, noch kündigte das Kanzleramt, das die Schulen seit Monaten für das größte Pandemie-Risiko hält, an, die erheblichen Kosten für die rund 100 Millionen Tests pro Monat zu übernehmen. Denn so viele wären nötig, wenn alle Schüler und Lehrkräfte tatsächlich zweimal pro Woche getestet würden – ist das manchem Länderchef zu teuer? Immerhin hat etwa Hamburg zu bisher 480.000 Tests umgehend 1,4 Millionen weitere besorgt.Viele Länder haben zwar schon in den vergangenen Wochen Tests für die Kitas und Schulen besorgt, doch erstens reichen die vielerorts nur für einen Test pro Woche, zweitens sind sie bei den meisten Schülern noch gar nicht angekommen, und bis auf Sachsen sind sie nicht mit der Genehmigung zum Schulbesuch verknüpft.Auch sonst fiel der Bund-Länder-Beschluss erneut durch eine bemerkenswerte Apathie gegenüber den Kitas und Schulen auf. Was seit der Corona-Spitzenrunde Mitte Februar damit begründet wird, dass Bildung Ländersache sei. Doch der wahre Grund war schon damals, dass Merkel von den ständigen Auseinandersetzungen mit den Ministerpräsidenten zu dem Thema genug hatte.Inzwischen scheinen auch die Ministerpräsidenten von der zu Beginn der zweiten Welle immer wieder behaupteten „Priorität“ für das Thema Bildung genug zu haben. Die Sache macht ja nur Ärger: mit Eltern, die gegen jeden Schulbesuch ihrer Kinder als unkalkulierbares Gesundheitsrisiko protestieren. Mit Eltern, die „in dem bisschen Präsenz“ nur die Simulation von Unterricht sehen. Mit Medien, die ihnen jeden „Ausbruch“ an Kitas und Schulen mit Schlagzeilen entgegenhalten. Und mit Lehrergewerkschaften, die es ablehnen, dass ihre Mitglieder jetzt auch noch die Corona-Tests der Schüler überwachen sollen.So haben die Ministerpräsidenten ihren Kultusministern seit Februar gestattet, die Schulen ein Stück weit aufzusperren, allerdings für die meisten Schüler im tageweisen Wechselmodell und für viele Mittelstufenschüler gar nicht. In diesem Dämmerzustand, so scheint es, sollen die Bildungseinrichtungen jetzt erst mal bleiben.