Die Wellen schlugen hoch, nachdem Jens Spahn bei einer Online-Tagung von möglichem Teilzeitunterricht auch im Herbst gesprochen hatte. Bei erneut steigenden Infektionszahlen könnten die Schulen zu einer „Drehscheibe in die Haushalte hinein“ werden, wurde der Gesundheitsminister am Wochenende zitiert. „Durchgefallen“, titelte die Süddeutsche Zeitung: Nach eineinhalb Jahren Pandemie könne man von der Politik bessere Antworten erwarten. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Britta Ernst, entgegnete im Tagesspiegel, das KMK-Plädoyer für Präsenzunterricht solle „nicht vorzeitig infrage gestellt werden“.
Nur fällt vielen Eltern genau das schwer nach mehr als einem Jahr des schulischen und familiären Ausnahmezustands. Seit Weihnachten hatten einige Schüler nur wenige Wochen vollwertigen Unterricht, den Rest der Zeit befanden sie sich in Teilzeit-Beschulung, also in halben Gruppen bei maximal halber Stundenzahl. Monatelang mussten sie sogar ganz zu Hause lernen. Dem sogenannten Distanzunterricht zumindest in der Form, wie er im vergangenen Jahr stattfand, haben Forscher der Goethe-Universität Frankfurt am Main gerade eine Lern-Effektivität bescheinigt, die der in den Sommerferien entspricht. Von einer „Stagnation mit Tendenz zu Kompetenzeinbußen“ sprach Andreas Frey, Leiter der Studie, die Daten aus aller Welt analysierte.
Jetzt warnen Virologen vor der zuerst in Indien beobachteten Delta-Variante des Coronavirus, etwa Charité-Chefvirologe Christian Drosten. Was indes helfen könne, seien die beginnenden Sommerferien. „In England ging es in den Schulen los. Das ist ein deutlicher Unterschied.“
So richtet sich der Blick erneut auf die Schulen – und das, obwohl Jugendmediziner, viele Epidemiologen und auch das Robert-Koch-Institut (RKI) aufgrund der vorhandenen Datenlage immer wieder bekräftigt haben, dass Schulen „eher nicht“ Motor bei der Verbreitung des Virus seien. Tatsächlich sanken die gemeldeten Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Wochen fast genauso stark wie im Schnitt der Bevölkerung – trotz wieder komplett offener Schulen, null Impfungen und zweimal wöchentlicher Pflichttests. Letztere gibt es allein für Schüler. Statistiker haben nachgewiesen, dass sie die Meldezahlen im Vergleich zu den weniger schnellgetesteten Erwachsenen spürbar höher ausfallen lassen. Doch warnen Virologen: Das günstige Bild könne sich durch die Delta-Variante ändern. Was sie bezüglich der jetzt noch vorherrschenden Alpha-Variante ebenso getan hatten.
Was aber bedeutet das für das neue Schuljahr? Wenn es nach den Kultusministern geht: erst einmal gar nichts. In ihrem gemeinsamen Beschluss forderten sie vor zwei Wochen den dauerhaften und „uneingeschränkten Regelbetrieb“ für alle Schulen – inklusive Ganztag, mit außerschulischen Partnern, Klassenfahrten und Schüleraustausch. Die Schnelltest-Pflicht soll weitergehen, in der ersten Woche nach den Ferien soll je nach Bundesland sogar dreimal getestet werden. Was die Maskenpflicht angeht, hat man sich hingegen nicht auf eine Linie einigen können. Und wie viele Luftfilter bis zum Schulstart in Klassenzimmern eingebaut sein werden? Keiner weiß es genau – Lehrerverbände befürchten eine erneute Trödelei der Behörden. Wenn jedenfalls im Herbst nur noch jene Erwachsene ungeimpft sind, die eine Impfung ablehnen, dann wäre es unverhältnismäßig, zu ihrem gesellschaftlichen Schutz die Schulen präventiv in den Wechselunterricht zu schicken – wenn doch die meisten Kinder und Jugendlichen selbst nur ein geringes Risiko einer schweren Erkrankung haben.
Zuletzt empfahl auch die Nationalakademie Leopoldina, den Präsenzbetrieb „unter Einhaltung geeigneter Schutzmaßnahmen (wie Masken, Hygiene, regelmäßige Tests) wieder durchgängig zu ermöglichen, weil dieser für nahezu alle Kita- und Schulkinder die effektivste Art des Lernens ist“. Die Pandemie habe für Kinder und Jugendliche „vielfältige Auswirkungen auf deren Bildung, soziale Interaktion, sozioemotionale Entwicklung, körperliche Aktivität sowie auf das psychische Wohlbefinden“ gehabt.
Um die entstandenen Lernlücken zu verkleinern, wollen alle Bundesländer Corona-Aufholprogramme starten. In Baden-Württemberg hatten sich schon Mitte Juni rund 900 Lehramtsstudierende freiwillig für das Projekt „Bridge the Gap“ gemeldet, die meisten sollen noch im laufenden Schuljahr eingesetzt werden. Hessen will über das Programm „Löwenstark – der BildungsKICK“ Förderkurse anbieten, dazu Hausaufgabenbetreuung, Online-Nachhilfe, Schwimmkurse, Angebote der kulturellen Bildung und vieles mehr.
Zwei Beispiele unter vielen, der Bund finanziert sie über ein Zwei-Milliarden-Programm kräftig mit. Bildungsforscher der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK mahnen die Politik derweil, das knappe Geld wirklich auf die sozial benachteiligten und lernschwächsten Schüler zu konzentrieren. Fest steht: Das beste Aufholprogramm wäre der Verzicht auf erneute Schulschließungen oder Wechselunterricht im neuen Schuljahr.
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