Der "casus belli"

Osama bin Laden und der Trip nach Dubai Was wussten die Geheimdienste vor dem 11. September?

Afghanistan ist ein Land, in dem ich lange gelebt habe. In meinem Meldeschein steht der Vermerk: "Aus dem Land nach Kabul verzogen", ein Vermerk, den kaum jemand anderes haben dürfte. Ich habe große Sympathien für das Volk Afghanistans. Von ganzem Herzen betrachte ich den jetzigen Krieg als ein weiteres, abscheuliches Verbrechen am afghanischen Volk von Seiten der Großmächte und Imperien, die so oft schon verbrecherisch einmarschiert sind und versuchten, durch die Einsetzung genehmer Regierungen das Land zu beherrschen.

Weil in der Vergangenheit alle scheiterten ...

... habe ich eine gute Hoffnung, dass sie auch diesmal scheitern werden. Aber auch diesmal wie früher zu einem ungeheuren Preis an Blut und Leben für dieses nach den Kriegen ärmste Volk. Was ich jetzt schreibe, sind keine in Regierungen, Parlamenten, EU-Sitzungen oder auf Parteitagen willkommene Argumente. Sie gelten dem "casus belli" - sowohl der direkten Kriegsursache als auch den entscheidenden Ursachen im Hintergrund. Casus belli - der Grund, weswegen die USA veranlasst waren, den Krieg in Afghanistan zu beginnen, soll die Weigerung der Taleban-Regierung gewesen sein, Osama bin Laden auszuliefern, der von den USA als Urheber der Anschläge vom 11. September bezeichnet wird. Aber dieser Kriegsgrund ist zweifelhaft. Die ehemalige Regierung in Kabul hatte wiederholt geantwortet, könnten die USA rechtsgültige Beweise vorlegen, würde der Betreffende ausgeliefert, um in einem dritten Land vor Gericht gestellt zu werden. Hierauf hatte Präsident Bush nur entgegnet, die Vereinigten Staaten brauchten keine Beweise vorzulegen, da Osama bin Laden schuldig sei.

Natürlich ist es möglich, dass die nunmehr gestürzte Taleban-Regierung die Auslieferung Osama bin Ladens auch dann verweigert hätte, wenn die USA mit Beweisen gekommen wären. Dies hätte die reklamierte Begründung für den Krieg gegen Afghanistan - die behauptete "Selbstverteidigung" - vermutlich noch erhärtet. Aber warum wurden und werden keine Beweise vorgelegt? Es ist ja nicht auszuschließen, dass Osama bin Laden für die Taten verantwortlich ist, derer er beschuldigt wird. Zur Begründung heißt es, die Beweise müssten aus geheimdienstlichen Gründen geheim bleiben.

Ich glaube, das entspricht der Wahrheit - jedoch auf eine andere Weise als es zunächst den Anschein hat.

Osama bin Laden vertrat 1982 den Familienkonzern in Istanbul, als die CIA an ihn herantrat, um mit ihm islamistische Freiwillige für den Kampf gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan zu rekrutieren. Diese Mission führte bin Laden bald nach Peshawar in Pakistan, wo er ausgebildet wurde und Geld sowie Waffen sowohl von der CIA als auch vom pakistanischen Geheimdienst SIS erhielt. Koordinator war der Chef von Saudi-Arabiens Spionageabwehr, Prinz Turki ibn Faysal. Erst 1993, nach dem ersten Attentat auf das World Trade Center und dem Konflikt Osama bin Ladens mit der saudischen Königsfamilie, der ihn die saudische Staatsbürgerschaft kostete, begann die CIA, ihre Kollaboration zu vermindern. Jedoch wie in allen konspirativen Fällen blieben gewisse Kontakte erhalten.

Radio France International zufolge - eine Quelle nicht ohne Glaubwürdigkeit, immerhin stützt sie sich auf Verbindungen zum französischen Geheimdienst DSGE - währten die Kontakte noch bis zum Sommer. Am 4. Juli 2001 kam Osama bin Laden vom pakistanischen Quetta nach Dubai, begleitet vom seinem ägyptischen Arzt, einem algerischen Krankenpfleger und vier Leibwächtern, um sein schweres Nierenleiden behandeln zu lassen, von dem die arabische Presse im Februar 2001 berichtet hatte. Er wurde im amerikanischen Krankenhaus von Dubai bis zum 12. Juli gepflegt und traf während dieser Zeit nicht nur führende Persönlichkeiten des Emirats, sondern auch den lokalen CIA-Residenten. Nach den Angaben von Radio France International wurde dieser Larry Mitchell am 15. Juli nach Washington zurückgerufen. Die Frage nach Beweisen für Osama bin Ladens Verantwortung für die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon ist so mit der Frage nach Kontakten zwischen westlichen Geheimdiensten und dem Terrorismus eng verknüpft. Falls Osama bin Laden verantwortlich ist, stellt sich deshalb unmittelbar die Frage: Welche Kenntnis hatte die CIA von dem geplanten Attentat - wer wurde in Washington informiert, wer nicht?

Um die Reichweite der Frage zu verstehen...

... sollte an das Vorspiel des Angriffes auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 gedacht werden. Großbritannien befand sich seinerzeit in einer äußerst schwierigen Lage. Premier Winston Churchill meinte, nur der Kriegseintritt der USA auf Seiten der Briten könne das Imperium retten. Am 25. November 1941 lag auf seinem Schreibtisch die Abschrift eines dechiffrierten Befehls von Admiral Yamamoto an die eigene Flotte, Operationen für einen bevorstehenden Angriff einzuleiten. Damit wusste er, dass die Japaner Kriegshandlungen planten, deren wahrscheinlichstes Ziel um den 8. Dezember 1941 herum Pearl Harbor sein würde. Damit wusste Churchill auch, das Imperium würde zu retten sein.

In den USA hat man später die Frage intensiv diskutiert, ob der britische Kriegsherr seine Kenntnisse Präsident Roosevelt mitgeteilt oder nur abgewartet hatte. Vollends geklärt ist das bis heute nicht. Gewisse Historiker behaupten, Roosevelt hätte Yamamotos Flotte Pearl Harbor angreifen lassen, um eine starke isolationistische Stimmung zu überwinden und die USA in den Krieg zu führen, den er historisch für notwendig hielt. Andere Historiker führen überzeugende Gründe dafür an, dass Roosevelt nichts erfahren habe, weil Churchill sein Wissen für sich behielt.

Was man in Washington vor dem 11. September wusste oder nicht wusste, dürfte noch jahrzehntelang diskutiert werden. Aber das Attentat gab den USA die Möglichkeit, eine seit langem als notwendige erachtete neue Phase des "Great Game", des Großen Spiels um Zentralasien, einzuleiten. Daran dürfte kein Zweifel bestehen.

Übersetzung: Reinhard Helmers

Jan Myrdalhat als einer der renommiertesten schwedischen Autoren in letzter Zeit des öfteren über Afghanistan geschrieben und dabei immer wieder die Frage nach dem "Kampf der Kulturen" gestreift. Schon Mitte der sechziger Jahre erschien sein inzwischen mehrfach aufgelegtes Buch: "Kreuzweg der Kulturen".

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