„Schön, dass ihr kämpft – ihr seid gefeuert!“

Gorillas Erst gab er sich verständnisvoll, nun entlässt der Chef des Berliner Lieferdiensts massenhaft seine streikenden Fahrer*innen. Doch die wehren sich weiter

„In meinem Warehouse gab es in den letzten drei Monaten mehr als zehn Unfälle von Fahrer*innen mit Knochenbrüchen. Wir haben das Unternehmen gebeten, uns neue Fahrräder zu stellen, aber nichts ist passiert. Deshalb beende ich das Arbeitsverhältnis von Kağan.“ Applaus. „Bei Gorillas gibt es sexistische und rassistische Diskriminierung. Deshalb feuere ich Kağan.“ Applaus. „Ich streike, weil wir bessere Ausrüstung brauchen, um die Waren auszuliefern. Kağan, du bist gefeuert!“

Vor dem Berliner Firmensitz des Lebensmittellieferdienstes Gorillas in der Schönhauser Allee steht an diesem Mittwochnachmittag eine Menschenmenge. Etwa 120 Leute – Gorillas-Fahrer*innen, Unterstützer*innen und jede Menge Journalist*innen – sind gekommen, und gerade hören sie zu, wie Arbeiter*innen des Unternehmens vortragen, warum sie ihren Boss, den Gorillas-Gründer Kağan Sümer, feuern.

Der Anlass für die Versammlung: Etliche Fahrer*innen haben Anfang dieser Woche per Brief oder Anruf ihre Entlassungen erhalten. Damit reagiert das Unternehmen auf neuerliche Streiks in mehreren der insgesamt 16 Gorillas-Lieferzentren in Berlin. Betroffen sind laut Aussagen von Arbeiter*innen vor allem Fahrer*innen, die in Schöneberg, Gesundbrunnen oder im Bergmannkiez arbeiten – jene "Warehouses", in denen seit vergangenem Freitag gestreikt wurde. Offenbar habe sich das Unternehmen diejenigen Arbeiter*innen herausgepickt, die an den betreffenden Tagen im Schichtplan standen. Im Lieferzentrum Bergmannkiez am Kaiserkorso 154 soll, so berichten Gekündigte auf der Kundgebung, sogar die komplette Belegschaft gefeuert worden sein. Und das könnte erst der Anfang sein. Wie von ver.di-Vertreter*innen am Rande des Protests zu hören ist, soll Gorillas die Entlassung von bis zu 350 Beschäftigten planen.

Der Arbeitskampf im Sommer

Im Unternehmen, das mit dem Versprechen antritt, innerhalb von zehn Minuten Lebensmittel zu Supermarktpreisen bis an die Haustür zu liefern, ist es seit Sommer immer wieder zu spontanen Arbeitsniederlegungen und Protesten der Beschäftigten gekommen. Die erste Welle wilder Streiks im Juni war durch die Kündigung eines Fahrers im Warenlager am Checkpoint Charlie ausgelöst worden. Damals brachten ein bis zwei Dutzend Fahrer*innen spontan den Betrieb zum Erliegen und zogen dann weiter, um auch andere Lager in der Stadt zu blockieren. Diese Aktionen brachten den Gorillas-Fahrer*innen schnell große Aufmerksamkeit ein, sind doch wilde, also nicht von einer Gewerkschaft ausgerufene, Streiks in Deutschland eine Seltenheit.

Zu der Forderung nach Wiedereinstellung des Fahrers Santiago kamen damals weitere hinzu: Die Arbeiter*innen kritisierten die sechsmonatige Probezeit, innerhalb derer sie ohne Angaben von Gründen entlassen werden können, schlechte Arbeitsbedingungen, ungenügende Ausrüstung und Unregelmäßigkeiten bei den Lohnzahlungen. In den folgenden Wochen gab es immer wieder Proteste und kürzere Streiks, mehrmals mussten Lieferzentren für einige Stunden oder einen Tag den Betrieb einstellen. Die Hauptkraft hinter den Protesten war das Gorillas Workers Collective, eine selbst organisierte Gruppe von Fahrer*innen, die bereits seit Anfang des Jahres die Geschäftspraktiken des Unternehmens kritisiert und auch eine Initiative zur Gründung eines Betriebsrates gestartet hatte.

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Gorillas-Gründer Kağan Sümer hatte im Sommer versucht, die Proteste auszusitzen. Gegenüber den Fahrer*innen signalisierte er Dialogbereitschaft, trug in Zoom-Konferenzen wirre Motivationsreden vor, erschien sogar persönlich bei einem Protest und versprach Verbesserungen. „Wir arbeiten hart daran, die Probleme zu lösen“ und „Ich bin im Herzen selber Fahrer“ waren beliebte Sätze aus Sümers Rhetorik-Baukasten. Doch die versprochenen Verbesserungen blieben aus, Unfälle wegen schlecht gewarteter Fahrräder, verspätete Lohnzahlungen und ein internes Projekt namens „Ace“, mit dem das Unternehmen straffere Schichtpläne und kürzere Lieferzeiten erprobt, heizten den Unmut unter den Arbeiter*innen weiter an.

Am Freitag, den 1. Oktober, traten daher die Belegschaften zweier Lieferzentren – am Kaiserkorso in Berlin-Tempelhof (unternehmensintern „Bergmannkiez“ genannt) und in der Schwedenstraße im Stadtteil Wedding („Gesundbrunnen“) – in den unbefristeten Streik. Am 2. Oktober streikten auch die Beschäftigten im Lieferzentrum Schöneberg. In allen drei Lagern waren dem Streik Versammlungen der Belegschaft vorausgegangen, auf denen über den Streik und die Forderungen abgestimmt wurde. Duygu, eine Fahrerin im Lieferzentrum Bergmannkiez, erklärte während des Streiks am Montag – vor der Kündigungswelle – gegenüber der linken Monatszeitung ak: „Wir fordern faire und vollständige Bezahlung, sichere Fahrräder, ein Ende der Unterbesetzung, menschenwürdige und planbare Schichten und Rücksprache mit den Fahrer*innen bei Änderungen in den Abläufen. In anderen Warehouses sind die Forderungen ähnlich, aber es variiert ein wenig, je nachdem, was vor Ort die größten Probleme sind. Für uns war wichtig, dass wir ausführlich miteinander gesprochen und die Forderungen diskutiert haben, dadurch haben am Ende fast alle Arbeiter*innen hier im Warehouse für den Streik gestimmt.“

„Diese Verankerung in den Lieferzentren ist ein großer Fortschritt gegenüber dem Sommer“, meint auch ein Mitglied des Gorillas Workers Collective. „Es sind mehr Leute dabei als im Sommer, auch Communities, die wir damals nicht erreicht haben, und nicht nur Rider, sondern auch Picker (die die Waren im Lager zusammenstellen, Anm. der Redaktion) und sogar einzelne Supervisoren unterstützen den Streik.“

Wilde Streiks legalisieren?

Möglich, dass die neue Dimension des Streiks das Management veranlasst hat, nun zum Gegenschlag auszuholen. Noch im Sommer hatte Sümer betont, er werde niemanden wegen des Streiks entlassen. „Ich mag, dass ihr für eure Rechte kämpft“, ließ er damals wissen.

In den Kündigungsschreiben heißt es, das Arbeitsverhältnis werde wegen eines „wichtigen Grundes“ fristlos beendet. In Kündigungen, die telefonisch erfolgten, wurde mehreren Fahrer*innen mitgeteilt, dass ihre Beteiligung am Streik der Anlass für die fristlose Kündigung sei.

Gegenüber dem Tagesspiegel erklärte ein Sprecherdes Unternehmens den Kurswechsel so: „Solche unangekündigten und nicht gewerkschaftlich getragenen Streiks sind rechtlich unzulässig. Nach intensiver Abwägung sehen wir uns gezwungen, diesen rechtlichen Rahmen nun durchzusetzen. Das bedeutet, dass wir das Arbeitsverhältnis mit denjenigen MitarbeiterInnen beenden, die sich aktiv an den nicht genehmigten Streiks und Blockaden beteiligt, den Betrieb durch ihr Verhalten behindert und ihre KollegInnen damit gefährdet haben.“

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Dass die Kündigungen vor Gericht Bestand haben werden, ist allerdings keineswegs sicher. Die strikte Auslegung des Streikrechts, nach der Streiks, zu denen keine tariffähige Gewerkschaft aufgerufen hat, illegal sind,ist eine deutsche Besonderheit. Ihm steht die Europäische Sozialcharta gegenüber, ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen, laut dem das Streikrecht ein Individualrecht ist. In den anstehenden Arbeitsgerichtsprozessen könnte also ein interessanter Präzendenzfall verhandelt werden, bei dem es auch darum geht, ob wilde Streiks in Zukunft ganz legal stattfinden können – oder ob ihre Illegalisierung fort- und festgeschrieben wird.

Die protestierenden Gorillas-Arbeiter*innen rechnen damit, dass sie die Kündigungen erfolgreich anfechten können. Weitere Proteste in den kommenden Tagen sind geplant. Auf seinem Twitter-Account schreibt das Gorillas Workers Collective: „Zu streiken ist nicht illegal. Seine Arbeiter*innen nicht zu bezahlen, ist illegal!“

Dieser Artikel erschien zuerst bei analyse & kritik

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