Reportage Zwischen Raketen, Nationalismus und Sozialabbau arbeiten Aktivist:innen an einer Alternative zum Kurs der Regierung von Wolodymyr Selenskyj. Jan Ole Arps über einen Besuch in Kiew
Zwischen Kiew-Zentrum und Butscha, ein Montagnachmittag im November
Foto: Jan Ole Arps
Darüber, ob man bei einem Luftalarm in den Schutzkeller gehen sollte, gehen die Meinungen auseinander. „Wenn ich kann, gehe ich immer“, sagt Brie, eine linke Aktivistin, die sich um den Wiederaufbau in den befreiten Gebieten der Ukraine kümmert. „Ich war noch nie im Keller“, verkündet Aleksandr Skyba stolz. „Man müsste schon großes Pech haben, um getroffen zu werden – außerdem, was soll der Quatsch.“
Skyba ist Lokführer und fährt Güterzüge durchs Land, am Anfang des Krieges transportierten sie Hilfsgüter und flüchtende Menschen, inzwischen sind es Baumaterialien oder Militärgerät. Dass er sich keine großen Sorgen um Raketeneinschläge macht, ist praktisch in seinem Beruf:
nem Beruf: Die Züge fahren, Luftalarm hin oder her. Zum Beispiel am Mittwoch, dem 23. November, als die Warn-App um kurz nach 13 Uhr zu heulen anfängt.Skyba hat für diesen Tag ins Eisenbahndepot eingeladen, inklusive Fahrt mit dem Zug. Im Depot im östlich des Dnipro gelegenen Teil von Kiew stehen Güterwagen, hier holen sich die Zugführer ihre Fahrtpapiere ab. Die Stimmung ist gemächlich. Waren zu Kriegsbeginn Schichten von 20 bis 30 Stunden keine Seltenheit, sieht es heute anders aus. Die Wirtschaft liegt nach bald einem Jahr des Kriegs am Boden, die Arbeitszeit wurde reduziert, viele Eisenbahner*innen haben nur noch ein Drittel der normalen Stunden – und erhalten entsprechend weniger Geld. Die meisten Kolleg*innen hätten finanzielle Probleme, berichtet Skyba. Die Arbeit in den alten Loks sei gefährlich, Verletzungen keine Seltenheit. Die Lokomotive, in deren Führerhäuschen das Gespräch stattfindet, ist aus den 1970er-Jahren, Modell WL80. WL steht für Wladimir Lenin.Skyba ist Kiewer Vertreter der Freien Gewerkschaft der Eisenbahner der Ukraine (VPZU), der radikaleren Alternative zur großen FPTU. Immerhin, Entlassungen hätten sie bisher verhindert. Wie? „Wir drohen dem Management“, grinst Skyba. Womit? „Wir haben unsere Methoden.“ Mehr will er dazu nicht sagen. Dann ist der Strom weg, die Lok kommt in einem kleinen Waldstück südöstlich von Kiew zum Stehen. Die Raketen haben die Elektrizität im ganzen Land ausgeschaltet. Irgendwann sagt Skyba: „Komm, wir gehen zu Fuß.“ Und stapft durch den Schnee voraus.Placeholder image-4Alle Kraftwerke außer den drei verbleibenden Atommeilern der Ukraine sind von Raketen getroffen worden, Umspannwerke zerstört. Um das Netz nicht zu überlasten, wird allen Haushalten zu festen Zeiten der Strom abgedreht, pro Tag für mehrere Stunden. Die Wohlhabenden haben in Generatoren investiert, deren Brummen man überall hört. In der Innenstadt entsteht so ein Bild relativer Normalität: Geschäfte sind beleuchtet, Werbetafeln strahlen, Bars und Restaurants haben geöffnet. Je weiter man sich vom Zentrum wegbewegt, desto dunkler werden die Straßen.Lasst die Oligarchen zahlen!Zunächst von Moskau als Reaktion auf die Sprengung der Krim-Brücke deklariert, sind die Raketenangriffe inzwischen zu einer kontinuierlichen Kriegstaktik des Kreml geworden. Die Zerstörung der Energieversorgung ist Terror gegen die Zivilbevölkerung, als gezielter Angriff auf zivile Objekte ein Kriegsverbrechen. Allerdings keines, auf das Russland das Monopol hätte. Die Türkei greift das Energienetz in den kurdischen Regionen Nordsyriens an. Saudi-Arabien zerstörte 2015 die zivile Infrastruktur im Jemen. Die Nato setzte das Mittel 1999 im Krieg gegen Serbien ein. Ein Nato-Sprecher erklärte damals, man zeige damit, dass die Nato Versorgungssysteme „abschalten könne, wann immer sie wolle“. Ein drohender Blackout in der Ukraine gibt auch denen zu denken, die die Situation schon länger kennen. „An den Beschuss gewöhnt man sich nicht“, sagt Brie, Aktivistin von Socialnij Ruch (Soziale Bewegung). „Die Angriffe bedeuten jedes Mal Stress. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll, wenn drei Millionen Menschen kein Wasser haben und in eiskalten Wohnungen sitzen.“Socialnij Ruch ist eine kleine linke Organisation mit Schwerpunkt in Kiew. Sie wurde 2015 gegründet, um eine „neue Linke“ aufzubauen – sozialistisch, demokratisch, feministisch, ökologisch. Nicht so einfach in diesen Zeiten, erklärt Witalij Dudin, der Vorsitzende der Organisation: Das Kriegsrecht erleichtere es der Polizei, Versammlungen aufzulösen, und die allgemeine Stimmung sei, dass die Gesellschaft Geschlossenheit zeigen müsse, um die Verteidigung nicht zu gefährden. „Es wird noch lange dauern, bis wir zu einem normalen politischen Leben mit Demonstrationen und Streiks zurückkehren können.“ So beschränkt sich Socialnij Ruch darauf, die sozialpolitischen Pläne der Regierung zu kritisieren – nicht die militärische Verteidigung, die sie befürwortet. Die linke Organisation unterstützt die Proteste gegen die Schließung von Kultureinrichtungen in Kiew, denen die Gelder gestrichen werden, und Aktionen der Krankenpfleger*innen in der Westukraine, die ausstehende Löhne einfordern. Die Regierung in Kiew hat in den vergangenen Monaten das Arbeitsrecht demontiert. Die Arbeitslosenunterstützung wurde gekürzt, auf 6.700 Hrywnja, etwa 180 Euro, die Bezugsdauer auf 90 Tage begrenzt. Dem Staat geht das Geld aus. Die Einnahmen sind eingebrochen, die internationalen Finanzhilfen werden von den hohen Verteidigungsausgaben aufgezehrt.„Der Kriegsneoliberalismus der Regierung bietet keine Perspektive“, sagt Dudin. „Statt das Geld von den Oligarchen zu holen, den öffentlichen Sektor zu stärken und eine eigene staatliche Rüstungsindustrie aufzubauen, macht er unsere Gesellschaft schwächer und abhängiger von den Nato-Staaten. Ich glaube nicht, dass die Leute, die ins Ausland geflohen sind, große Lust haben werden, nach dem Krieg hier für niedrige Löhne zu arbeiten. Viele werden versuchen, im Ausland zu bleiben.“Die Aktivist*innen von Socialnij Ruch sind überzeugt, dass es in der Gesellschaft Zustimmung zu linken Konzepten gibt. Die Ukrainer*innen hätten erlebt, dass das einzige, was gut funktioniere, die staatliche Eisenbahn sei, die Zehntausende Menschen in Sicherheit brachte. Für die Privatwirtschaft könne man das nicht sagen. „Aktuell erleben wir die schwerste Krise der Energie- und Stromversorgung“, sagt Witalij Dudin. „Ja, daran ist Russland schuld. Aber die Leute fragen sich, warum diese Unternehmen immer noch in privater Hand sind. Warum dürfen sie immer noch mit unserer Versorgung Profit machen?“Die Regierung hat in den vergangenen Jahren zahlreiche linke Parteien verboten, denen sie vorwarf, als verlängerter Arm Moskaus zu fungieren. Auch wenn die Socialnij-Ruch-Aktivist*innen viele dieser Parteien nicht als linke Organisationen betrachten: Die Verknüpfung links = sowjetnostalgisch = prorussisch ist eine politische Waffe, die gegen jede progressive Äußerung zum Einsatz gebracht werden kann. Der Aufschwung nationalistischer Stimmungen geht in der Ukraine mit einer Abwehr gegen alles, was als russisch gilt, einher.Ende Oktober forderte Oleksij Danilow, Sekretär des Nationalen Verteidigungsrats der Ukraine, die russische Sprache aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Als Socialnij Ruch sich gegen dieses Vorhaben wandte, brachte das der Gruppe einen massiven Shitstorm von rechts bis links ein. „Ein großer Teil unserer Zivilgesellschaft nimmt momentan eine sehr proukrainische Haltung ein“, erklärt Sergej Mowtschan. „Viele, auch Linke, sind einverstanden mit der Verbannung russischer Kultur und Sprache aus dem öffentlichen Leben.“ Mowtschan ist Anarchist und aktiv bei Solidarity Collectives, einem Netzwerk zur Unterstützung linker Kämpfer*innen in der ukrainischen Armee. Früher hat er Aktivitäten der extremen Rechten dokumentiert, den wachsenden ukrainischen Nationalismus beobachtet er mit Sorge. „Es gibt eine Menge Leute in der Ukraine, die Russisch sprechen und das gern weiter tun würden. Was ist mit ihnen?“Mowtschan glaubt, dass der große Zuspruch für prorussische Parteien vor allem daher rührt, dass viele Menschen ihre Alltagskultur geschützt wissen wollten. „Die meisten Leute haben diese Parteien nicht gewählt, weil sie für Putin wären, sondern weil die Parteien für diese Idee stehen: Wir vertreten deine Interessen als Russisch sprechende Person. Die Leute wollen ihre Sprache schützen, ihre Kultur, ihr Verständnis der Geschichte, aber sie wollen keine russischen Soldaten hier.“Die Bedrohung von rechtsSergej Mowtschan beschäftigt, wohin sich die ukrainische Gesellschaft im Krieg entwickelt. Linke aus dem Westen fragten häufig, ob nicht vor allem die Rechten vom Krieg profitieren würden. „Das ist der Grund, weshalb wir es so wichtig finden, dass auch Linke in der Armee kämpfen“, sagt Mowtschan. „Wenn wir als Linke nicht sichtbarer Teil dieses Kampfes sind, haben wir keine Zukunft.“ Mowtschan erwartet, dass nach dem Krieg ein Wettstreit zwischen den politischen Richtungen entbrennen wird; wer keine Kämpfer*innen vorweisen könne, werde keine Chance haben.Placeholder image-3Und wer wird den Wettstreit gewinnen? „Das kann momentan niemand sagen. Ich persönlich glaube, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt oder eine gute Verhandlungslösung erreicht, wird das als Selenskyjs Erfolg verbucht werden. Auch wenn sein Stern danach schnell sinken wird, bietet das zumindest die Chance auf eine demokratische Entwicklung. Aber wenn die Ukraine verliert, wenn es ein schlechtes Verhandlungsergebnis gibt, dann wird der Revanchismus massiv anwachsen, und natürlich wird die extreme Rechte diese Welle anführen. Ich weiß, viele befürchten, dass ein ukrainischer Sieg den Nationalismus anheizen würde. Aus meiner Sicht ist es umgekehrt: Wenn die Ukraine verliert, gibt es hier eine riesige rechte Straßenmobilisierung, vielleicht einen rechten Durchmarsch in der Politik.“Einer, der das alles ganz anders sieht, ist Jurij Sheljaschenko, Sprecher der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, deren Mitgliederzahl unklar bleibt. „Kaum jemand möchte in den Krieg ziehen“, sagt Sheljaschenko. „Menschen kämpfen, töten und sterben nicht gern. Selbst wenn momentan laut Umfragen 80 Prozent den Krieg befürworten, sind nur wenige bereit, zur Armee zu gehen. Die meisten ignorieren die Einberufungsbriefe oder finden andere Gründe, um nicht am Kampf teilzunehmen. Darüber wird wenig gesprochen. In unserer militarisierten Kultur ist Kriegsdienstverweigerung stigmatisiert.“ Sheljaschenko sieht die Ukraine als Beute, um die sich die „Atlantizisten“ und die Vertreter eines „Großeurasiens“ streiten.Placeholder image-2Die Aktivist*innen von Socialnij Ruch überzeugt das nicht. Dass viele Linke im Westen den Kampf gegen den russischen Imperialismus skeptisch sehen, enttäuscht sie. „Es wäre sicher leichter für euch, wenn die USA uns überfallen hätten“, sagt Wladislaw Starodubtsew, Geschichtsstudent und ebenfalls bei Socialnij Ruch: „Aber das können wir leider nicht anbieten.“ Dabei ist es nicht so, dass große Begeisterung herrscht, selbst in den Krieg zu ziehen. Einzelne Mitglieder der Gruppe sind zur Armee gegangen, die meisten nicht. Zwangsrekrutierungen sind in Kiew zumindest bislang kein Thema. Allerdings, so erzählt Brie, gebe es Soldat*innen, die die Armee wieder verlassen wollten, aber nicht könnten. Das sei ein Problem, von dem sie auch in ihrem Umfeld höre. An der Notwendigkeit, sich Russlands Armee entgegenzustellen, zweifelt hier aber niemand. In der Ukraine gebe es noch politische Freiheiten, Russland hingegen sei eine Diktatur. „Für ernsthafte Friedensverhandlungen“, glaubt Witalij Dudin, „werden weitere Erfolge der ukrainischen Armee nötig sein“.Placeholder infobox-1
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