Wer weiß, ob Polens faktischer Alleinherrscher Jarosław Kaczyński nicht ein verkappter Fan Olga Tokarczuks ist. Die frisch gekürte polnische Literaturnobelpreisträgerin hatte vor fünf Jahren ihr bisheriges Magnum Opus veröffentlicht, Die Jakobsbücher. In dem nun auch auf Deutsch erschienenen und „über sieben Grenzen, fünf Sprachen und drei große Religionen“ führenden Werk zeichnet Tokarczuk die bewegte Vita des mythenbehafteten religiösen jüdischen Führers Jakob Frank nach. Dieser hatte sich, im einst multiethnischen Polen des 18. Jahrhunderts, als neuen Messias gesehen und durch sein Charisma Tausende Anhänger um sich geschart. Das monumentale Werk war für die schwedische Akademie mit ausschlagend dafür, den wichtigsten Literaturpreis zum inzwischen fünften Mal nach Polen zu vergeben: für Tokarczuks „narrative Vorstellung, die mit enzyklopädischer Leidenschaft das Überschreiten von Grenzen als Lebensform darstellt“, so die Würdigung der Akademie. Kaczyński indes, 2016 nach seiner seinerzeitigen Lektüre gefragt, sagte: „Auch wenn die Autorin darüber überrascht sein mag – ich lese gerade Tokarczuks Jakobsbücher.“
Sollte das Werk den 70-jährigen Chef der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) inspiriert haben, so entbehrte dies nicht einer gewissen Ironie. Denn die 57-jährige Autorin steht für das genaue Gegenteil dessen, was die am vergangenen Sonntag für weitere vier Jahre gewählte PiS an der Weichsel umsetzen will. „Für mich als Polin zeigt dieser Nobelpreis, dass trotz aller Probleme, die wir in unserem Land mit der Demokratie haben, wir der Welt immer noch etwas zu sagen haben. Wir haben eine starke Literatur, eine starke Kultur“, erklärte Tokarczuk in einem ersten Statement nach der Bekanntgabe der schwedischen Jury. Was sie selbst gegenüber ihren Landsleuten zu sagen hat, ist selten im Sinne der PiS, für die etwa die nationale Geschichte ein Reservoir des heroischen Ruhmes und von Identitätsideen ist. „Wir haben uns die Geschichte Polens als die eines toleranten, offenen Landes erdacht, das sich gegenüber seinen Minderheiten nichts Böses hat zuschulden kommen lassen“, sagte Tokarczuk 2015, als sie für die Jakobsbücher den wichtigsten polnischen Literaturpreis „Nike“ erhielt. „Doch wir haben als Kolonisatoren und als nationale Mehrheit, die Minderheiten unterdrückte, als Sklavenhalter oder Mörder von Juden schreckliche Dinge getan.“ Dies sorgte in erzkonservativen und nationalistischen Kreisen für Empörung, im Internet rollte eine Hasswelle über die Autorin.
Tokarczuk und die PiS, das passt nicht zusammen. „Wir sind in einer Situation, die uns nötigt, klar zwischen Demokratie und dem Autoritarismus zu wählen“, sagte sie am vergangenen Freitag. Die Psychologin, die vor ihrer schriftstellerischen Karriere einige Jahre als Therapeutin gearbeitet hat, freut sich nun über den Wahlerfolg von Linken und Grünen. „Das Herz der Literatur schlägt grundsätzlich links“, sagt sie. Der Roman greife auf das dem Menschen eingeschriebene Bedürfnis zurück, den Anderen zu verstehen, sich dem Anderen sensibel zu öffnen. Die Beschreibung der Welt in ihrer ganzen Komplexität und Mehrdeutigkeit meide Schwarz-Weiß-Malerei und triviale Wahrheiten, sagt sie. Hinzu kommt, dass sie sich entschieden für den Umwelt- und Tierschutz und für Frauenrechte einsetzt und immer wieder von den Bedrohungen spricht, die von der Ungleichheit in der Gesellschaft ausgehen. In linksliberalen Kreisen Polens ist sie seit jeher eine Ikone.
Und dennoch entziehen sich Tokarczuks Werk und Vita einer klaren politischen Zuordnung, wie auch Polen in keine politisch-kulturelle Ost-West-Landkarte passt. Die Autorin und ihr ein gutes Dutzend Romane und Essaysammlungen umfassendes Werk stehen dafür emblematisch. Ihre literarischen Arbeiten sind von einem bildstarken Mystizismus geprägt, sie greifen, jenseits des Rationalen, auf religiöse Traditionen, auf archetypische Muster zurück. Womöglich deshalb kann der konservative Kaczyński ihrem Werk einiges abgewinnen; im Falle der Jakobsbücher wohl die charismatische Erlöserfigur, als die viele Polinnen und Polen auch Kaczyński sehen.
Die imaginative Kraft von Tokarczuks Geschichten indes entwächst aus der Verbindung jener multiethnischen und multireligiösen Geschichte des einst weit in den Osten reichenden Polens, beeinflusst von der Theorie C. G. Jungs, ihres „privaten Meisters“, wie sie einmal sagte. Jung hatte den mehrere hunderttausend Jahre alten Symbolen und psychischen Archetypen und dem darauf aufbauenden kollektiven Unbewussten einen großen Stellenwert eingeräumt. Die Konzeption Jungs sei im „Grenzbereich von Psychologie und Theologie“ angesiedelt und „der Versuch, einen gemeinsamen Nenner mit der modernen Physik zu finden, in Anknüpfung an Traditionen der Philosophie und Mystik, bereichert durch das Denken des Fernen Ostens“, schrieb sie vor vielen Jahren. Auf dieser Klaviatur der menschlichen Psyche spielt Tokarczuk ihr vielschichtiges Œuvre.
Aktuell schreibt sie an einem Buch über die Beziehungen zwischen Ukrainern und Polen – sie selbst hat polnische, ukrainische und ruthenische Vorfahren und lebt im einst deutschen Niederschlesien: „Man kann über diese Region nicht ohne die Ukrainer sprechen, denn hier leben drei Millionen polnische Bürger mit Wurzeln in der Ukraine.“ Überhaupt sei für sie die Unterscheidung, wer Pole und wer Ukrainer sei, sehr künstlich. Mit solchen Vorstellungen im Kopf und dem Nobelpreis im Rücken dürfte Olga Tokarczuk in Zukunft und angesichts der von der PiS forcierten nationalkonservativen Wende mehr denn je im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.
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