Funken ohne Flamme

Polen Noch fehlt es Protesten gegen die PiS-Regierung an Masse. Auch Ex-Solidarność-Kader ändern daran wenig
Ausgabe 04/2016

Wenn Beobachter Straßenproteste gegen die nationalkonservative Regierung bewerten, ist eine Frage stets die wichtigste: Gab es viele Teilnehmer? Bei der bislang größten Demonstration, organisiert vom Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD), sollen es in Warschau Mitte Dezember bis zu 50.000 Menschen gewesen sein, so die offiziellen Angaben in der Hauptstadt, die von der oppositionellen Bürgerplattform (PO) regiert wird. Die Polizei schätzte die Teilnehmerzahl dagegen nur auf 20.000. Eine ähnliche Lücke klaffte zwischen den Angaben zum KOD-Protest am 9. Januar, als es gegen eine Übernahme der öffentlich-rechtlichen Medien durch die PiS ging: 20.000 zählte der Veranstalter, 7.000 die Polizei. Bei den Protesten am vergangenen Wochenende in 36 Städten blieben die Angaben ähnlich unterschiedlich.

Das ist nicht nur Zahlenklauberei, die Regierung und deren Gegner sind sich dessen bewusst, dass öffentlicher Widerstand ein zuverlässiger Indikator dafür ist, wer wie wahrgenommen wird. Jedenfalls kann von Massenprotest momentan nicht die Rede sein, auch wenn das KOD, zunächst als informelle Gruppe gedacht, durchaus Potenzial hat. Bislang sammeln sich dort liberale Bürger, linke Aktivisten und Solidarność-Größen aus längst verblichenen Zeiten. Organisatorisch gebühren die Lorbeeren KOD-Initiator Mateusz Kijowski, einem 47-jährigen Informatiker und Sozialaktivisten. Der wochenlange Kampf um das Verfassungsgericht wirkte wie ein Katalysator. Kijowski: „Wir wollen nicht den Sturz der Regierung, sondern nur, dass die Verfassung nicht gebrochen wird.“

Abstürzende Bürgerplattform

KOD erinnert an KOR, jenes Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, das 1976 von Oppositionellen gegründet wurde, um Kräfte gegen die kommunistische Regierung zu bündeln. KOD-Sympathisanten hoffen darauf, ihr Verein werde eine ähnliche Wirkung entfalten wie einst das KOR, eine Keimzelle der 1980 entstandenen Gewerkschaft Solidarność.

Auch deren Namensgeber von einst, der heute 78-jährige Karol Modzelewski, zählt zu den KOD-Anhängern. „In Polen wächst eine authentische gesellschaftliche Bewegung“, glaubt der Historiker, einer der wenigen prominenten Ex-Solidarność-Aktivisten, die soziale Verwerfungen energisch kritisieren und den Grund für den PiS-Aufstieg in den Versäumnissen der Vorgänger sehen. „So etwas wie die KOD-Proteste“, meint Modzelewski, „habe ich nur bei der ersten Solidarność gesehen.“ Zwar betrachte die Regierung große Bewegungen wie diese „als Pöbel“, doch werde sie für einen solchen Fehler bezahlen.

Politisch profitieren von der überschaubaren Protestszene kann bisher besonders einer: Ryszard Petru. Der Ökonom ist Parteichef der 2015 gegründeten, wirtschaftsliberalen Partei Nowoczesna (Moderne). Sie punktet in den Milieus, denen die bis Oktober 2015 regierende Bürgerplattform (PO) bei Wirtschaftsfragen zu sehr in der Mitte stand. Derzeit kommt die Petru-Partei in Umfragen auf 28 Prozent (PiS: 32). Bei der Sejm-Wahl im Herbst lag sie noch bei 7,6 Prozent (PiS: 37,6). „Ich stehe vor ihnen als Führer der Opposition“, sagte Petru jüngst in einer TV-Ansprache. Die PiS könnte sich auf Petru einschießen, wenn sie ihr Sozialprogramm erfüllt und den Medienliebling danach fragt, wie er soziale Probleme zu lösen gedenkt. „Sollte die Partei weiter der Religion des freien Marktes anhängen, wird sie sich bei sieben bis acht Prozent halten“, urteilt der Publizist Piotr Żuk.

Bleibt dann die Bürgerplattform wichtigste Oppositionskraft? Noch schwächen interne Rivalitäten die Ex-Regierungspartei. Erhielt sie bei der Wahl im Oktober noch gut 24 Prozent, bescheinigen Umfragen derzeit einen Absturz auf 15. Mit diesem Niedergang will der künftige PO-Chef Grzegorz Schetyna, zuletzt Außenminister, Schluss machen und in die Offensive gehen. Schetyna spricht von „einer Million Menschen, die wir auf die Straße bringen müssen“, um die Regierung zu attackieren.

Die PO gilt als marktliberal, den Linksschwenk bei der Verstaatlichung der Privatrente gab es nur wegen klammer Staatskassen. Ohnehin müsse laut Schetyna künftig „der konservative Anker sehr stark sein“, nur eine Partei des breiten Zentrums könne der PiS die Macht entreißen. Mit Schetyna an der Spitze? „Es ist schwierig, sich Schetyna als klugen Reformator vorzustellen“, schreibt Karolina Wigura von der liberalen Zeitschrift Kultura Liberalna.

Bleibt noch die Linke. Die postkommunistische Allianz der Demokratischen Linken (SLD) sowie die Podemos ähnliche Partei Razem (Zusammen) sind nicht im Parlament vertreten. Auch zu einer eindeutigen Unterstützung der KOD-Proteste können sich beide nicht entschließen. Die SLD verharrt in einem Richtungskampf, während Razem-Vertreter lieber eigene, kleinere Proteste anstoßen und auf die Themen Soziales und Wirtschaft setzen, die in der Tat bald virulent werden könnten. Vor Wochenfrist hat die US-Ratingagentur Standard & Poor’s die Bonität Polens von A- auf BBB+ herabgestuft, was die polnische Währung prompt mit einer Talfahrt quittierte.

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