Sie expandieren geradezu, die Konfliktfelder zwischen Polens regierender Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) auf der einen und der EU auf der anderen Seite. Die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der Polen zwei Strafzahlungen von summiert 1,5 Millionen Euro pro Tag auferlegt hat, korrespondieren mit der Weigerung der EU-Kommission, Polen Milliarden aus dem Corona-Hilfsfonds zu bewilligen. Die Konflikte eskalieren derart, dass sie die EU in eine Debatte verstricken können, die nicht nur den autoritären Charakter der PiS offenbart, sondern auch Schwachstellen der Union entblößt.
Wohl auch deshalb hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen klargestellt, die einzige Bedingung für die Freigabe der Corona-Mittel sei Polens Verzicht auf die Disziplinarkammer für Richter und die Rückkehr der durch sie relegierten Juristen. Die PiS will dies erfüllen, kündigt aber bereits neue Reformen an, um sich einen indirekten Zugriff auf die Justiz zu verschaffen. Kein Wunder, ohne politischen Einfluss auf die Justiz kein autoritärer Staat, den die PiS-Führung in verlockender Nähe wähnt. So mag Premier Mateusz Morawiecki noch so sehr vom „Dritten Weltkrieg“ Brüssels gegen Warschau schwadronieren – die EU-Kommission wird den Streit auf Druck von Deutschland und Frankreich hin kurzfristig beilegen und mittelfristig eine „verschlankte“ Demokratie à la PiS akzeptieren.
Berlin und Paris fürchten nicht weniger als ein Übergreifen der Diskussion um EU-Recht versus Landesverfassungen auf andere Länder. Im heraufziehenden Wahlkampf in Frankreich ist sie schon präsent. Zugleich spielt das Flüchtlingsdrama an der polnisch-weißrussischen Grenze der PiS in die Hände. Deutschland will partout keinen Nachschlag zur Krise von 2015. Daher schweigt Brüssel lieber zu Polens unsäglichem Grenzregime der Abschreckung, das von einer inhumanen Rhetorik gegen die Flüchtlinge flankiert wird. Jüngst verabschiedete der Sejm ein Gesetz, das die zuvor schon praktizierten Pushbacks legalisiert. Ein klarer Verstoß gegen EU-Recht und die Genfer Flüchtlingskonvention. Ein Aufschrei in der EU-Zentrale? Fehlanzeige – das Vorgehen ist im unausgesprochenen Sinne der EU. Und wer glaubt, Kaczyński und Co. wären nicht fähig, in ähnlicher Weise wie Belarus-Präsident Lukaschenko die Flüchtlingskarte zu ziehen, nimmt die Spirale der Entdemokratisierung an der Weichsel nicht ernst.
Dabei ist die PiS auch deswegen stark, weil ihr willkommene Vorlagen geliefert werden. Eine davon ist das Urteil des Europäischen Gerichtshof, nach dem Polen sofort ein wichtiges Braunkohlebergwerk schließen soll. Es kommt hinzu, dass im Institutionengefüge der EU das Europaparlament keine klassische Legislative ist, diesen Eindruck aber erweckt. Dass ein EuGH seine Urteile in geheimen Sitzungen fällt und abweichende Voten unter den 27 Richtern nicht veröffentlicht; dass eine Europäische Zentralbank, deren Autonomie größer ist als die der Fed in den USA, ausschließlich die monetäre Stabilität des Euro zur Aufgabe hat, nicht aber die Stimulierung des Arbeitsmarktes in der EU.
Wenn es, wie Theodor Adorno schrieb, kein richtiges Leben im falschen gibt, so heißt das auf Europa übertragen: Es gibt keine gute Demokratie in einem undemokratischen EU-Überbau. Vielleicht entwickelt der Konflikt zwischen Warschau und Brüssel eine heilsame Wirkung. Beide brauchen (wieder) mehr Demokratie.
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