Kiew und Warschau trennen Geschichtsbilder, die vom Nationalismus geprägt sind
Ukraine/Polen Warschauer Patrioten: Langsam, aber merklich lässt die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine nach. Nicht nur bei der Deutung der Massaker in Wolhynien und Ostgalizien von 1943/44 könnten die Auffassungen kaum gegensätzlicher sein
Nicht auszuschließen, dass sich die regierende PiS-Partei in den kommenden Monaten in ihren Beziehungen zu Deutschland und zur Ukraine verzettelt und über eigene Rochaden stolpert. Seit Russlands Einfall in der Ukraine gilt der Kurs gegenüber Berlin und Kiew aus Sicht der Kaczyński-Formation als Charaktertest. Er könnte bei der Parlamentswahl in zehn Monaten entscheidend sein. Das zeigte zuletzt die Kontroverse um die Stationierung von Patriot-Abwehrsystemen aus Deutschland in Ostpolen.
Nach dem Raketeneinschlag vom 16. November im Grenzort Przewodów kam diese Offerte aus Berlin. Auch wenn es ein unausgegorenes Angebot war und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) aus Gründen der Eigenwerbung offenbar nicht auf die Bitte aus Warschau einging, e
stine Lambrecht (SPD) aus Gründen der Eigenwerbung offenbar nicht auf die Bitte aus Warschau einging, es nicht publik zu machen: Die Reaktion der Regierung von Mateusz Morawiecki verblüffte. Erst stimmten Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak und Präsident Andrzej Duda zu, dann gab PiS-Chef Jarosław Kaczyński Order: Die Deutschen sollten ihre „Patriots“ der Ukraine zukommen lassen.Melnyk und das MassakerEin Großteil der Polen sieht das anders. Laut aktuellen Umfragen sind nur 12,5 Prozent der Meinung, die deutschen Systeme sollten an die Ukraine gehen, 40 Prozent plädieren für eine Dislozierung an Polens Ostgrenze, knapp 30 Prozent sind der Auffassung, die NATO solle über den Standort entscheiden. Indirekt wird damit zum Ausdruck gebracht, dass eine polnische Regierung sich vorrangig um die Sicherheit der eigenen Bürger kümmern sollte. Darin bestärkt werden viele wohl auch durch eine der jüngsten Personalentscheidungen Kiews. Andrij Melnyk, vor Kurzem noch Ukraine-Botschafter in Berlin, wurde Mitte November zum Vizeaußenminister befördert.Der 47-Jährige, der gern mit Tiraden gegen deutsche Politiker auffiel, ist auch für Polen ein rotes Tuch. Denn Melnyk relativiert das durchaus komplizierte, in Polen aber seit 2016 als Völkermord eingestufte Massaker in Wolhynien, bei dem 1943/44 bis zu 60.000 Polen und andere Minderheiten von ukrainischen Nationalisten ermordet wurden. Etwa 40.000 weitere polnische Opfer gab es in den angrenzenden Regionen Ostgaliziens.Bei Racheaktionen töteten polnische Untergrund-Einheiten 10.000 bis 15.000 Ukrainer, ebenfalls zumeist Zivilisten. Für die gezielten Massaker in dem einst zur Zweiten Polnischen Republik (1918 – 1939) gehörenden Gebiet waren die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) zuständig. Die OUN stand bis 1941 unter Führung Stepan Banderas, eines ukrainischen Nationalisten, der in der Ukraine inzwischen den Status eines Nationalhelden genießt. Sicher ist Bandera eine komplexe Figur, der Grad seiner Verantwortung für den Massenmord in Wolhynien umstritten, da er von 1941 bis 1944 in Deutschland als Schutzhäftling interniert war. Gleichwohl zeichnete er in den Jahren zuvor für Mordanschläge verantwortlich und kollaborierte mit dem NS-Regime.Die Verbrechen von UPA und OUN in Wolhynien sind international unbestritten. Ungeachtet dessen hat das Parlament in Kiew 2015 Gesetze verabschiedet, die UPA- und OUN-Angehörige als Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine verklären. Melnyk verteidigte in einem Interview Ende Juni Stepan Bandera und meinte, Polen sei während des Krieges für die Ukraine „genauso ein Feind gewesen wie Nazi-Deutschland und die UdSSR“. Das ukrainische Außenministerium distanzierte sich von diesen Positionen und berief Melnyk wenig später als Botschafter ab. Auch der ruderte zurück, jedoch eher halbherzig und mit einem einschränkenden „Aber“: Es gebe bei Bandera „nur ein paar Menschen“, die in Deutschland zu ihm geforscht hätten, „aber sonst kaum jemand“. In Polen kritisieren mittlerweile auch PiS-Politiker Melnyks Nominierung – freilich in eher zarten Worten. Deutlicher äußern sich linke wie rechte Publizisten. „Präsident Selenskyj muss erfahren, dass – auch wenn polnische Politiker diese Kröte schlucken – viele Polen eine Regierung mit Melnyk an Bord nicht unterstützen“, schreibt etwa Jerzy Domanski, Chefredakteur des linken Wochenmagazins Przeglad.Tatsächlich hat seit Kriegsbeginn die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, unter den Polen abgenommen, langsam zwar, doch merklich. Die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen (Schätzungen sprechen von bis zu 1,5 Millionen im Land) ging von März bis November um sieben auf 68 Prozent zurück. Noch stärker sank das Einverständnis mit der direkten Unterstützung für die Ukraine: bei finanziellem Beistand von 43 auf 27 Prozent, beim Waffentransfer von 46 auf 32 Prozent. Es gibt zudem unbestätigte Berichte über Umfragen, die nicht veröffentlicht werden, weil sie „eine systematische Änderung ins Schlechte zeigen“, so der Soziologe Przemysław Sadura.Angst vor EskalationLetzteres mag ein Hinweis darauf sein, dass immer mehr Menschen in Polen Angst vor einer Eskalation haben. Während die ukrainische Führung ein nachvollziehbares und sichtbares Interesse daran hat, die NATO in den Konflikt hineinzuziehen, um sich zu entlasten und die Chancen auf einen wie auch immer gearteten Sieg über Russland zu erhöhen, ist das keineswegs im Sinne Polens, zumindest nicht seiner Bürger. Wie unterschiedlich die Interessen sind, zeigen auch die von Selenskyj-Berater Oleksij Arestowytsch geäußerten Regionalmachtambitionen Kiews nach dem erhofften Sieg über Russland. „Entgegen der sentimentalen Rhetorik, leider auch der Praxis der polnischen Regierung, gibt es in der Politik keine Sentimentalität“, schreibt der Publizist Łukasz Warzecha in der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita. „Die Ukrainer verstehen das sehr gut. Seit Beginn des Krieges handeln sie so pragmatisch wie möglich, mit allen Mitteln der Propaganda und des Drucks (...). Es ist heute Kiew, das zeigt, wie Politik gemacht wird.“ Das Diktum Henry Kissingers, der einst als US-Außenminister die „vitalen Interessen“ seines Landes mit schonungsloser Brachialität vertrat, beschäftigt Warschau seit Monaten. Freundschaft gibt es zwischen Menschen, nicht aber Nationen. Die haben Interessen, auch im Krieg mit seinen Allianzen.
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