Olga Tokarczuk sagte im Juni 2022 bei einer Lesung in Krakau nach der polnischen Premiere ihres neuen Romans „Es ist kein Buch, das gegen die Männer gerichtet ist“. Dass sie das sagen wollte, hat durchaus Grund: denn die erklärte Feministin zeichnet in ihrem nun auch auf Deutsch erschienenen Buch die Männer in keinem guten Licht. Es sind Männer, die anno 1913 im seinerzeit deutschen Sanatorium in Görbersdorf in Schlesien auf Heilung von der Tuberkulose hoffen. Der kleine Ort, das heute polnische Sokołowsko, wurde im 19. Jahrhundert durch eine neuartige Behandlungsmethode zum Vorbild für den Schweizer Kurort Davos – jenen, in dem Thomas Manns Der Zauberberg spielte. Auch sonst sind die Bezüge zu Manns Großwerk mannigfaltig ̵
faltig – und meisterhaft in eine weiblich-feministische Perspektive gerückt. Aber eben nicht gegen Männer, eher: als Warnung an die heutigen.Der junge polnische Ingenieursstudent Mieczysław Wojnicz aus Lemberg reist nach Görbersdorf, um sich einem Heilungsprozess zu unterziehen. In einem Lungensanatorium für männliche Kurgäste macht er Bekanntschaft mit anderen Männern, die stellvertretend sind für Charaktertypen jener Zeit – und auch unserer. In der Folge entfächern ihre Gespräche und Erlebnisse ein Kaleidoskop an vorherrschenden Mustern und Überzeugungen gegenüber Staat, Kultur, Metaphysik und vor allem: Frauen. Der Tod der Frau des Pensionsinhabers wirkt wie ein Katalysator. Vom Tag ihrer Beerdigung an entfaltet sich (Un)heilvolles, „die Nacht gewinnt die Oberhand – nun wird sie ihren Tribut einfordern, Abend für Abend die nächste Bastion erobern“.Tokarczuk schafft es, über die 380 Seiten einen grauen Schleier des Unbehagens zu legen. Atmosphärisch erinnert es an Michael Hanekes Kinofilm Das Weiße Band (2009) – die unterschwellige Gewalt, als Fatalität zwischen die Zeilen gebettet, ist permanent spürbar. Hanekes Film wie auch Tokarczuks Prosa schaffen es, subtil zu vermitteln, warum die folgenden Kriege geradezu geschehen mussten. Der Grund sind Männer, die keine Liebe leben und erleben; in Empusion Männer, die über Jahrtausende generierte und geerbte Ängste vor Frauen in sich tragen. Einzig Hauptprotagonist Mieczysław Wojnicz, dessen Vor- und Nachname im Polnischen die Wörter Krieg und Schwert bergen, will lieber nicht mit der Waffe gegen andere kämpfen, sondern mit sich und seinen Schatten. Es wird klar: Wojnicz’ Heilung ist eine innere, eine tiefenpsychologische, bei der er unerwartete Hilfe bekommt – von den weiblichen „Tunschis“, geisterhaften Wesen, die die Geschichte erzählen, aber auch: Urteile vollstrecken und beschützen.Die 61-jährige Literaturnobelpreisträgerin legt hier höchst stimulierende Prosa vor, deren mehrdeutige Botschaften wahlweise erschrecken, Mut machen oder beides zugleich. Denn im Verhalten der Männer spiegeln sich Kräfte des (kollektiven) Unbewussten, die nach Entfesselung drängen. Es sind Kräfte, die sich – dies der Schrecken – auch heute Bann zu brechen scheinen.Tiefe, subtile RevolutionDoch es ist nicht hoffnungslos. Es seien, so lässt die Autorin Doktor Semperweiß sagen, die je individuellen Krankheiten, oder eher Schwächen, Anomalien und das Verleugnete im Menschen, die ihn ausmachen. Sie stimulieren „eine spezielle psychische Aktivität, eine besondere Entwicklung, die sich fortan auf sie konzentriere“. Die Seele sei das, was am schwächsten in uns sei. „In deinen Krankheitssymptomen ist deine Seele.“ Und da lässt sich was machen, auch an der Männer-Frauen-Front. Bei der Lesung in Krakau sagte Tokarczuk: „Trotz des Krieges [in der Ukraine; Anm. d. Red.], der immer in klare binäre Trennungen zurückwirft, leben wir in einer Welt, in der sich eine sehr subtile, tiefe Revolution ereignet. Diese erlaubt es nicht nur Frauen, sich zu befreien, aus dem Nicht-Sein und der Verachtung. Sondern auch Männern, die in Erwartungen der gewaltsamen, oppressiven und patriarchalen Kultur verstrickt sind.“ Von der Polin, auch das macht der Roman deutlich, ist noch einiges an Mitwirkung an dieser „subtilen Revolution“ zu erwarten.Placeholder infobox-1