Nachdem die Regierung von Premier Mateusz Morawiecki Mitte April kurzerhand die Grenze für Getreideexporte und weitere Agrarerzeugnisse aus der Ukraine geschlossen hat, sind die Konsequenzen nicht zu übersehen. Erste polnische Unternehmen etwa der Logistikbranche legen Klagen gegen das Embargo ein. Wirtschaftsfachleute sprechen vom ramponierten Vertrauen, das bei ausländischen Investoren schade. Für den Ruf der PiS-Regierung ist das nicht von Vorteil.
Zwar erscheinen Protest und Widerstand von Landwirten, die sich ebenso in Ungarn, der Slowakei und Bulgarien Gehör verschafft haben, nachvollziehbar, doch erregt in der Brüsseler EU-Zentrale, dass die Maßnahmen von einem Tag auf den nächsten kamen. „Der Stopp des Transits für ukrainische Agrar
sche Agrarerzeugnisse war ein Schock, das haben wir nicht erwartet“, lässt sich der einstige ukrainische Präsident Petro Poroschenko vernehmen. Für sein Land seien diese Ausfuhren „eine Frage des Überlebens. Wir sollten eine Lösung durch Ausgleichszahlungen für polnische Bauern finden, nicht durch Blockaden.“Mittlerweile haben die EU, Polen und die Ukraine einen Kompromiss vereinbart, der den Transit von Getreide und anderen Lebensmitteln wieder erlaubt. Auf der Autobahn A4 in Südpolen, die von der Ukraine bis nach Deutschland führt, sind Transporte Richtung Westen mit Polizei-Eskorte unterwegs. Das Agreement besagt, keine einzige Tonne ukrainisches Getreide, keine Eier, kein Fleisch und kein Honig dürfen in Polen verkauft werden. Um dem Nachdruck zu verschaffen, protestieren die Bauern vielerorts weiter. Sie trauen der Regierung nicht, obwohl die Hilfen von mehreren Milliarden Euro versprochen hat. Sie handeln wohl einfach in dem Bewusstsein, dass Polens Agrarsektor komplexer ist, als es das staatliche Fernsehen auf bunten, eingängigen Grafiken darzustellen pflegt. Bauernorganisationen wie die kämpferische Agrounia gehen weiter und verlangen, ukrainische Transitware zu verzollen. Sie fürchten deren Re-Export aus anderen EU-Staaten, was auf dem europäischen Binnenmarkt kaum kontrollierbar ist.Nachdem sie fast ein Jahr tatenlos zusah, wie sich ein Konflikt aufbaute und an Brisanz gewann, reagiert die PiS nun in panischer Not. Schließlich wird im Herbst ein neues Parlament gewählt, und die Regierungspartei ist auf die Stimmen ihrer Stammwähler aus Dörfern und Kleinstädten mehr denn je angewiesen. Um wachsendem Unmut zu begegnen, wird deshalb viel Wert auf „lokale Investitionen“ gelegt. Zugleich sagt PiS-Chef Jarosław Kaczyński erstmals laut und vernehmlich: „Ja, aber.“EU-Hilfen für Polen, Slowakei, Ungarn und BulgarienMan bleibe zwar ohne die geringsten Abstriche Freund und Verbündeter der Ukraine, allerdings sei es die Pflicht jeder Regierung, für die Interessen der eigenen Bürger zu sorgen. „Es ist nicht im Interesse unserer ukrainischen Freunde, dass Polen in die Krise stürzt und hier Leute an die Macht kommen, die sich von der radikalen Unterstützung der Ukraine verabschieden.“ Damit gemeint ist die nationalliberale Konfederacja, eine Allianz aus drei Parteien, die man nicht unterschätzen sollte. Gerade werden dort junge und charismatische Politiker zu medialen Zugpferden.Weil die Konfederacja als einzige Partei deutliche Kritik an Polens Ukraine-Kurs übt, dürfte mit den momentan vorhergesagten zwölf Prozent das Wählerreservoir nicht ausgeschöpft sein. Zumal sich Argumente dieses Teils der Opposition inzwischen auch in den Medien des Mainstreams wiederfinden. Sie besagen, Polens Bedürfnisse müssten gegenüber der Ukraine stärker berücksichtigt werden. So schreibt etwa Bogusław Chrabota, Chefredakteur der Tageszeitung Rzeczpospolita, vom Ende „der Flitterwochen der europäischen Öffentlichkeit mit der kämpfenden Ukraine“. Der Westen beginne, das mehr und mehr zu verstehen. „Jetzt ist es an der Zeit, dass es auch Kiew begreift. Dort denkt man die ganze Zeit, dass die ukrainischen Privilegien für die Ewigkeit gesetzt sind. Dass sie eine ehrliche Bezahlung für die Mühe auf dem Schlachtfeld sind.“Derweil tönen die staatlichen Sender, dass der EU die Schuld an der Getreide-Misere zuerkannt werden müsse, auch wenn die Brüsseler Kommission nunmehr einen Schutzmechanismus für die Einfuhr von Raps, Mais, Weizen, Sonnenblumenkernen und -öl gegenüber Polen, der Slowakei, Ungarn und Bulgarien zugesagt habe. Es soll zunächst 56 Millionen Euro und dann nochmals 100 Millionen an Hilfen geben, während im Gegenzug wieder die ungehinderte Ausfuhr von Agrarprodukten aus der Ukraine möglich sein soll.Auf lange Sicht scheint eines klar: Die Landwirtschaft Polens und anderer EU-Staaten wäre gemessen an den bisherigen Handelsregelungen mit der Ukraine nicht konkurrenzfähig. Deren Export bei Agrargütern geht größtenteils auf einige Dutzend riesige Agroholdings zurück. Hocheffizient bewirtschaften sie Flächen zwischen 100.000 und 600.000 Hektar. Mehr als die Hälfte solcher Flächen am Dnjepr zählen zur fruchtbaren Schwarzerde-Region. Bei vielen dieser Erzeuger sind in den vergangenen Jahren westliche Investoren eingestiegen. Es geht also um ökonomische Interessen, die außerhalb der üblichen Argumentation zu verorten sind, wonach die ukrainische Bevölkerung nicht noch weiter geschädigt werden dürfe. Auf den Protesttransparenten der polnischen Landwirte ist zu lesen: „Wir helfen den Ukrainern – nicht den Oligarchen!“Viel spricht dafür, dass die Getreide-Frage ihre Sprengkraft entfaltet, je näher Erntezeiten und Verhandlungen mit Kiew wegen einer EU-Kandidatur rücken. Zumindest in Polen könnte die bislang überwiegend wohlwollende Einstellung gegenüber der Ukraine kippen, Umfragen deuten bereits darauf hin, ganz unabhängig von der Parteienpräferenz.