Virus der Machtgier

Polen Eine abstruse Wahl ist gerade noch verhindert worden. Mittelfristig ist der Zerfall der Koalition denkbar
Ausgabe 20/2020
Der polnische Wissenschaftsminister Jaroslaw Gowin sitzt im leeren Parlament in Warschau
Der polnische Wissenschaftsminister Jaroslaw Gowin sitzt im leeren Parlament in Warschau

Foto: Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Reift jetzt die Entscheidung heran, ob Polen demokratisch bleibt oder bald vollends von einem neuen Autoritarismus beherrscht wird? Es keimt die Hoffnung auf Ersteres oder zumindest darauf, dass die rechtskonservative Regierung, geführt von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), diesmal nicht unbeschadet davonkommt. Am vergangenen Sonntag sollte turnusgemäß eine Präsidentenwahl stattfinden – PiS-Chef Jarosław Kaczyński wollte es so trotz ärztlicher Warnungen wegen Covid-19, trotz des Widerstandes von Oppositionspolitikern und Juristen, trotz des faktischen Ausnahmezustands. Andrzej Duda sollte unbedingt im Amt bleiben. Der Präsident hat im polnischen Regierungssystem nicht zu unterschätzende Befugnisse, er kann Gesetze blockieren. Mit einem Amtsinhaber der Opposition würde die PiS schwerlich Kurs halten können. Dies galt es zu verhindern und der Maxime zu folgen: Je früher die Wahl, desto besser die Chancen für Duda.

Weil klar war, dass es keine Abstimmung nach gewohntem Muster geben konnte, ließ Kaczynski ein haarsträubendes Briefwahlgesetz durch das Parlament drücken, bei dem der Post quasi die Rolle der staatlichen Wahlkommission zufiel. Die Gesetzesnovelle enthielt skandalös verfassungswidrige Details und geriet zum Offenbarungseid. Kaczyński hatte als informeller Staatschef in dem strikten Willen, Macht zu erhalten und auszubauen, schlicht überzogen. Vielleicht brachten ihn das ungarische Muster und die Aussicht auf ein Regieren ohne Parlament um das nötige Urteilsvermögen. So war es fast folgerichtig, dass ihm nicht Epidemiologen und Juristen Einhalt geboten, sondern ein Kleinkoalitionär ihn straucheln ließ. Der machtbewusste Jarosław Gowin und ein Teil der 18 Abgeordneten seiner moderaten Mitte-rechts-Gruppierung Porozumienie widersetzten sich und pochten auf einen späteren Termin – nun wohl Ende Juni oder Anfang Juli. Dann wird es keine reine Briefwahl, vor allem aber eine Rückkehr der staatlichen Wahlkommission geben. Ein vorläufiges Ende mit Schrecken?

Was bedeutet das Ganze für die 38 Millionen Polinnen und Polen, die neben den Negativfolgen der Corona-Pandemie einem Verlust demokratischer Kultur ausgesetzt sind? Gowins „Nein“ führte dem ganzen Land vor Augen, dass Kaczyński weder weise noch allmächtig und schon gar kein Stratege ist. Auf sein Geheiß hin missachtet die PiS die Verfassung, entert Zug um Zug das Justizsystem und nötigt die Staatsmedien zu einer Propaganda, die an das Fernsehen Nordkoreas erinnert. Zugleich schüchtert die Polizei friedliche Demonstranten ein oder nimmt sie fest – vordergründig aus Gründen der Epidemie-Bekämpfung. Werden sich die Menschen das weiter gefallen lassen, wenn sie ein schwer misslungener Wahlversuch miterleben ließ, wie kopflos die PiS agieren kann?

Schärfen, lockern, schärfen

Ohnehin erhärtet sich gerade durch Umfragen der Eindruck, dass die Corona-Krise ganz und gar nicht beherrscht wird. Maßnahmen werden verschärft oder gelockert, je nachdem, wie es der Regierung und dem Präsidenten zuträglich scheint. In der Theorie gibt es einen Krisen-Schutzschild, doch die Praxis bestätigt das nur bedingt. Abgesehen davon, dass Armut und Arbeitslosigkeit steigen.

Das absurd autoritäre Machtspiel um das Präsidentenvotum und die unverkennbare Niederlage Kaczyńskis könnten mittelfristig zum Zerfall der Koalition und zu vorgezogenen Parlamentswahlen führen. Ist es paradox oder logisch, dass eine dem Autoritären zugeneigte Exekutive in den Augen von immer mehr Polen an Autorität verliert, weil sie unfreiwillig zeigt, wie demokratieresistent sie sein kann? Der König ist, wenn schon nicht ganz nackt, so doch ein schlechter König und mit dem Virus der Machtgier infiziert. Wenn die Gesundheit der Menschen wie die ökonomischen und sozialen Folgen der Krise für Kaczyński und seine Lakaien bestenfalls zweitrangig sind, muss man sich nicht wundern, dass auch PiS-Anhänger die Verschiebung der Wahlen mehrheitlich begrüßen und parallel dazu die Zustimmung zu einem Präsidenten wie Andrzej Duda sinkt.

Polen am Scheideweg? Seit der PiS-Niederlage ist zumindest das ungarische Szenario etwas weniger wahrscheinlich. Das könnte Hoffnung stiften im Land der einstigen Solidarność.

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