Ziemlich erschrocken

Polen Die Proteste gegen das Abtreibungsgesetz nehmen gewaltige Ausmaße an. Hat Jarosław Kaczyński eine Mehrheit im Land unterschätzt?
Ausgabe 45/2020
Mit den Massen auf der Straße hat Jarosław Kaczyński nicht gerechnet
Mit den Massen auf der Straße hat Jarosław Kaczyński nicht gerechnet

Foto: Omar Marques/AFP/Getty Images

Viele Beobachter lässt das Ausmaß der Proteste gegen die Entscheidung zum Abtreibungsrecht in Polen stutzen. Kann es sein, dass Jarosław Kaczyński den Volkszorn unterschätzt hat? Dass er glaubte, in Zeiten der Pandemie würden sich nur wenige auf die Straße trauen, weil sie fürchten mussten, belangt zu werden oder sich anzustecken? Für diese Annahme spricht, dass etliche Politiker der Regierungspartei PiS überrascht und erschrocken wirken, eiligst Kompromisse ankündigen und schwangeren Frauen ihre Reverenz erweisen. Also, hat sich Kaczyński verkalkuliert?

Nein, er wusste, dass die Pandemie die rechtskonservative Regierung überfordert, und ging davon aus, mit dem Thema Abtreibung von bisherigen Fehlern bei der Corona-Abwehr abzulenken und die Schuld an wachsenden Infektionen dem Protest wie der dabei hilfreichen Opposition zu geben. Zudem sollte das Votum des Verfassungsgerichts den aufbegehrenden klerikalen Flügel der PiS, die Konkurrenzpartei Konfederacja und einen Teil der orthodoxen Wähler besänftigen. Letztlich dürfte Kaczyński klar gewesen sein, dass die EU in Zeiten wie diesen Polens Rechtsprechung nicht mehr als sonst maßregeln werde.

Kaczyński ähnelt durchaus Donald Trump – die Machthybris ist bei ihm in einem ähnlich weit fortgeschrittenen Stadium. Was bedeutet, dass ihn mögliche Opfer bei den Zusammenstößen auf der Straße, die er mitzuverantworten hätte, nicht aufhalten, wenn es gilt, seine Macht zu sichern. Das Ziel ist Autoritarismus pur.

Was Kaczyński nicht wusste oder falsch einschätzte, ist die Tatsache, dass nicht etwa eine Minderheit, sondern die Mehrheit im Land seine riskanten Pläne intuitiv durchschaut. Daher die unbändige Wut und der Absturz der PiS in den Umfragen, deshalb sagen mehr als 70 Prozent der Menschen, Kaczyński müsse seinen Hut nehmen. Auch 40 Prozent der PiS-Wähler fordern das trotz propagandistischer Gegenwehr regierungsnaher Medien.

Seine zahlreichen Anbeter haben Kaczyński zugeflüstert: Das Volk ist verführbar, und jetzt hat es auch noch Angst. Er hätte lieber Herbert Grönemeyer zuhören sollen: „Der erste Stein fehlt in der Mauer / Der Durchbruch ist nah.“ Kaczyńskis Abstieg hat begonnen, wenn seine Gegner über den längeren Atem verfügen.

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