"Dieses Buch ist polemisch und einseitig." Mit diesem Satz beginnt Gabriele Gillen ihr Buch Hartz IV - Eine Abrechnung. Nach der Lektüre kann man dem nur zustimmen: die Kölner Journalistin macht keinen Hehl daraus, dass es sich bei dem Werk um eine leidenschaftliche Kampfansage an neoliberale Ideologen handelt.
Aus ökonomischer Sicht mag man es vielleicht problematisch finden, wenn Gabrielle Gillen unverblümte Lobreden auf eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik hält: diese ist schließlich auch nur ein Modell und kein volkswirtschaftlicher Königsweg. Doch der Autorin scheint das egal zu sein, sie will eine Lanze brechen für die als altmodisch und angeblich unbezahlbar verschriene Gesellschaft des sozialen Ausgleichs. Sie erkennt und benennt den S
und benennt den Sozialstaat als das, was er in der Bundesrepublik von jeher war: eine tragende Stütze der Demokratie und die Grundlage für Wohlstand und Produktivität.Gillen widerspricht dabei der vorherrschenden "Zurichtung des Menschen auf die Bedürfnisse der Wirtschaft" mit einer Vehemenz, die manchmal an Verzweiflung erinnert. Für sie sind es nicht die Fakten, sondern die Masse an Claqueren der neoliberalen Ideologie in Politik, Wissenschaft und Medien, die sie an ihrem Verstand zweifeln lassen. Wenn sie jedoch im letzten Kapitel die Frage aufwirft, wer die bestehende Ordnung gemacht hat und wer von ihr profitiert, sich aber gleich im nächsten Satz vor der vermeintlichen Naivität dieser Frage in den Zynismus flüchtet, gesteht sie dem neoliberalen Geist genau jene Macht zu, die sie zuvor bestritten hat. So begeht sie erneut einen Fehler, der sich durch ihr gesamtes Buch zieht: ihre Kritik hört dort auf, wo es interessant wird.Gillen beschreibt zunächst, wie wenig die in düsteren Farben gemalten Krisenszenarien vom bedrohten Standort Deutschland mit der Realität zu tun haben und nennt Fakten, die in der öffentlichen Diskussion gerne verschwiegen werden: Exportzahlen, Lohnstückkosten, Produktivitätszuwächse und die häufig vergessenen Kosten der Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland. Vor allem letztere seien ein gewichtiger Grund dafür warum die oft und gerne angedrohte Abwanderung von Betrieben ins Ausland in Wirklichkeit kaum stattfindet: es "rechnet" sich nämlich oftmals nicht. So werden die Einsparungen bei den Löhnen häufig schon durch die Infrastrukturkosten wieder "aufgefressen". Kosten für Anwälte und Dolmetscher, sowie eine in Entwicklungs- und Schwellenländern häufig unsichere Rechtslage und dementsprechend hohe Risikoprämien kommen hinzu und können die Produktionsverlagerung in ein vermeintliches Billiglohnparadies bei falscher Kalkulation schnell zu einem finanziellen Debakel werden lassen.Gillen führt vor Augen, was in der öffentlichen Debatte oft vergessen wird: welche Konsequenzen Hartz IV nämlich für die Betroffenen hat und was es eigentlich bedeutet am Existenzminimum oder darunter zu leben. Auch wenn diese Beschreibung sozialer Realitäten manchmal etwas rührselig daherkommt, so füllt sie doch den häufig abstrakten Begriff der Armut mit konkreten Inhalten und wirft die Frage nach Sinn und Zweck der Sozialreformen auf. Diese wiederum führt Gillen schließlich zu ihrer zentralen These: Hartz IV ist nichts anderes als staatlich verordnetes Lohndumping zur künstlichen Erhöhung der Gewinne auf einem gesättigten Markt.Nun werden jedoch leider die Konsequenzen, die eine derartige Beobachtung für eine Gesellschaft hat, in der, wie Gillen richtig feststellt, die soziale Gerechtigkeit im Rang eines Verfassungsauftrags steht, nur oberflächlich abgehandelt. Der dahinterliegende Antagonismus von Gemeinwohl und Eigennutz bleibt gleich ganz im Dunkeln. Ähnliches gilt, wenn Gillen zwar über den Machtzuwachs von Beratungsfirmen wie McKinsey und PricewaterhouseCoopers schreibt, dabei jedoch nicht wirklich analysiert, was es für eine Demokratie bedeuten kann, wenn sich finanzstarke Interessen als Expertengruppen tarnen und politische Entscheidungsprozesse weitgehend alleine bestimmen, anstatt sich dem pluralistischen Wettstreit mit anderen Interessengruppen zu stellen.So ist Ihre Kritik zwar treffend und klar formuliert, konkrete Alternativen zur gegenwärtigen Wirtschaftspolitik findet man jedoch kaum. In ihrer Ratlosigkeit sucht Gillen Zuflucht bei der EU, einer europäischen Verfassung und Reformen der Steuergesetzgebung. Gelegentlich verfällt sie gar in eine seltsam anmutende Nostalgie, etwa wenn sie dem Leser vorbetet, wie idyllisch das Leben doch gewesen sei, bevor die Globalisierung über die Welt hereinbrach.Dass ihr Buch dennoch lesenswert bleibt, verdankt sich nicht zuletzt dem beißenden Zynismus der Autorin, die immer wieder erzählerisches und vor allem satirisches Talent beweist. So formuliert sie fiktive Briefe an Adressaten wie etwa die deutsche Wirtschaft und die kommenden Generationen oder spekuliert darüber, was sich denn mit all jenen Menschen anstellen ließe, die für den Standort Deutschland keinen Nutzen bringen.Kurzum: Hartz IV - Eine Abrechnung bietet einen unterhaltsamen, einfachen und doch fundierten Einstieg in die Thematik. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.Gabriele Gillen: Hartz IV - Eine Abrechnung. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004,252 S., 7,90 EUR