Der Freitag: Herr Cage, in Ihrem Videospiel
David Cage:
Weil er im echten Leben eine solche Situation – hoffentlich – nie erleben wird. Damit wird er aber auch nie diese starken Gefühle kennenlernen, die damit verbunden sind, wenn man als Vater die Entführung seines Sohns erlebt. Die Frage, die mich interessiert hat, ist: Wie weit würde ich gehen, um jemanden zu retten, den ich liebe? Gibt es da eine Grenze? Und wenn es keine Grenze gibt, wie komme ich mit den Konsequenzen klar?
Ausgangspunkt ist, dass ein Vater seinen Sohn beim Einkaufen aus den Augen verliert.
Das ist mir selbst einmal passiert. Ich war an einem Samstagnachmittag in einem großen Einkaufszentrum, zusammen mit meiner Frau und meinem fünfjährigen Sohn. Es war viel los und ich verlor meine Frau aus den Augen. Ich dachte, mein Sohn wäre bei ihr. Sie dachte, er wäre bei mir. Es dauerte zehn Minuten, bis wir ihn wiederfanden. Nicht lang, aber es waren die längsten zehn Minuten meines Lebens. Alle möglichen Dinge schossen mir durch den Kopf: Angst, Panik, Schuldgefühle. Diese Emotionen wollte ich den Spieler von
In dem Spiel entführt ein Serientäter Kinder und tötet sie. Der Spieler schlüpft in vier Charaktere, die versuchen, den Sohn des Architekten Ethan Mars zu finden. Die Figuren sind aber ambivalent, haben alle etwas Gebrochenes.
Das wollte ich so. Bei den meisten Videospielen musst man sich entscheiden, ob man gut oder böse sein will. In
Ein Beispiel?
Wenn man etwa der Vater des entführten Kindes ist und einen Drogenhändler töten soll, um sein Kind zu retten – dann gibt es bei dieser Entscheidung keine richtige Antwort. Man kann beide Standpunkte verstehen: Ich tue es, weil mein Kind mir wichtiger ist als der Drogenhändler. Oder ich tue es nicht, weil ich nicht mit dieser Schuld leben kann.
Sie als Schöpfer der virtuellen Welt fällen kein Urteil?
Nein, das war für mich sehr wichtig, als ich das Spiel entwickelt habe. Ich wollte kein moralischer Diktator sein, der aus dem Hintergrund Leute für das richtige Verhalten belohnt oder für das falsche bestraft. Deswegen geht das Spiel auch auf jeden Fall weiter – egal, ob man sich als Vater nun entscheidet, den Drogenhändler zu töten oder nicht. Es gibt keine Sackgasse nach einer getroffenen Entscheidung. Aber man verändert den Charakter der Spielfigur. Wenn man den Vater zum Mörder macht, ist das keine kleine Sache. Man sieht die Figur dann ganz anders.
In Foren findet man Kommentare von Spielern, die bisher keine Skrupel hatten, am Bildschirm möglichst viele Personen zu erschießen. Bei
Einige dieser Kommentare habe ich auch gelesen. Sie haben mich sehr gefreut, weil das das Ziel war. Menschen zu töten dürfte ja die weitverbreitetste Tätigkeit in Videospielen sein. Seit ich spiele, habe ich wahrscheinlich mehrere Millionen Menschen erschossen und nie einen Gedanken daran verschwendet. Nur auf Dauer ist das ziemlich stumpf. Ich möchte Videospiele für Erwachsene schaffen, nicht für Teenager. Deswegen wollte ich, dass das Töten in
Neben extremen Situationen gibt es aber lange Sequenzen, in denen die Figuren alltägliche Dinge machen: Duschen, Essen kochen, ein Kind ins Bett bringen. Für ein Thriller-Spiel ungewöhnlich, weil es lange keine Action gibt.
Es ist interessant, dass diese Szenen so viel Aufmerksamkeit erregen. Als ich das Spiel plante, schien es mir ganz selbstverständlich, dass man mit den Figuren auch Alltägliches teilen sollte. Wenn man die Beziehung eines Vaters zu seinem Sohn nachvollziehen soll, ist es wichtig, dass man sich um das Kind kümmert. Weil der Spieler Zeit und Energie investiert hat, fühlt er dann die Verbundenheit viel stärker in dem Moment, in dem der Sohn verschwindet.
Am Ende kann man das Spiel nicht wirklich gewinnen. Man kann es aber auch nicht verlieren.
Ich wollte den Spieler auf eine Reise schicken. Wichtig ist hier nicht das Ende, sondern die Zeit, die man in dieser Welt verbringt und die Erfahrungen, die man dort macht. Alle Entscheidungen haben Folgen für den Fortgang. Dadurch wird die Geschichte tatsächlich zu deiner eigenen, du hast sie ein Stück weit mitgeschaffen. Das ist ein Unterschied zu bisherigen Videospielen. Ich nenne
Ein ganz neues Genre?
Während der Entwicklung habe ich oft gedacht: Das ist kein Videospiel, das ist etwas anderes. Es verletzt viele Regeln, die für Videospiele gelten. Ich möchte etwa auch nicht, dass man immer wieder zurückgeht und noch mal von vorn anfängt. Man sollte es am besten nur einmal spielen, das macht es realistischer. Im richtigen Leben gibt es auch keine Wiederholungsfunktion.
Zunächst habe ich eine Synopse geschrieben, worum es gehen soll. Ähnlich, wie man das bei einem Film auch machen würde. Nachdem Sony gesagt hatte, sie wollen es haben und die Entwicklung bezahlen, habe ich begonnen, das Skript zu schreiben. Also ein Drehbuch für das Geschehen, die einzelnen Szenen und die Handlungsoptionen. Das hat ungefähr ein Jahr gedauert.
Ein solches Skript ist viel aufwändiger als ein Film-Drehbuch?
Ja, ein Film-Skript hat ungefähr 100 Seiten. Das Skript für
Was passiert, wenn das Skript geschrieben ist?
Dann kommt der zweite Teil meiner Arbeit, der vergleichbar mit der Arbeit eines Filmregisseurs ist. Wir machen ein Casting mit Schauspielern, die die Figuren verkörpern. Dann üben wir die Szenen ein. Die Bewegungen und Gesichtsausdrücke der Schauspieler werden aufgezeichnet und in den Computer eingelesen, um Animationen daraus zu machen. Genauso wie James Cameron das bei Avatar gemacht hat. Mit dem Programmieren selbst habe ich übrigens nichts zu tun, dafür haben wir dann Spezialisten.
Wie lange haben Sie insgesamt daran gearbeitet?
Von der Idee bis zum fertigen Spiel hat es knapp vier Jahre gedauert.
Sie kritisieren, dass es kaum intelligente Videospiele gibt, dass die Hersteller Erwachsene intellektuell unterfordern.
Die Videospiele-Industrie hat sich in den letzten Jahren stark professionalisiert. Das hat aber auch zur Folge, dass zu wenig riskiert wird. Gute Videospiele herzustellen, kostet heute sehr viel Zeit und Geld. Da ist es für die Firmen einfacher zu sagen: ‚Lass uns das Spiel nehmen, das letztes Jahr so erfolgreich war, und eine neue Version herausbringen.‘ Finanziell ist man da auf der sicheren Seite. Wenn man als Spiele-Entwickler kommt und sagt: ‚Lasst uns etwas machen, dass es noch nicht gibt – mit der Gefahr, dass es scheitert‘, dann winken die meisten dankend ab.
Wie könnten denn die Videospiele der Zukunft aussehen?
Als ich meine Firma Quantic Dream vor 13 Jahren gegründet habe, dachte ich, es sei nur noch eine Frage von zwei, drei Jahren bis Videospiele ein künstlerisches Medium werden. Das ist bis heute nicht passiert. Deswegen gebe ich lieber keine Prognose mehr ab. Vielleicht schaffen wir das nie. Wenn es gut läuft, könnten Videospiele aber eines Tages Kinofilme als populärstes Erzählmedium ablösen. Das Potenzial dazu haben sie, wenn man sie ernst nimmt.
Das Gespräch führte Jan Pfaff
Als David Cage Ende Februar Heavy Rain in Paris vorstellte, wurde dies wie eine Filmpremiere in einem großen Kino an der Champs-Elysées gefeiert. Es war der passende Rahmen für eines der wichtigsten Videospiele der letzten Jahre. Von der Fachpresse bekam es überragende Noten, die Feuilletons der großen Zeitungen besprachen es lobend. Bis Anfang April verkaufte sich das Spiel, das es nur für die Sony Playstation 3 gibt, bereits über eine Million Mal. Mit der düsteren Bildsprache und den gebrochenen Helden ist Heavy Rain deutlich vom Film Noir inspiriert. Der Spieler kann abwechselnd in vier Charaktere schlüpfen: Da gibt es den Architekten Ethan Mars, der vor Jahren einen Sohn durch einen Autounfall verlor. Als sein zweiter Sohn von einem Serienkiller entführt wird, der die Opfer nach einigen Tagen tötet, will Mars alles tun, um sein Kind zu retten. Der Killer stellt ihn vor makabere Aufgaben. Die Journalistin Madison Paige wird in den Fall hineingezogen und recherchiert auf eigene Faust. Sie leidet aber unter Schlaflosigkeit und kann ihrer Wahrnehmung nicht immer trauen. Außerdem ermitteln noch der FBI-Profiler Norman Jayden und der Privatdetektiv Scott Shelby.
Von seinen Fans wird David Cage, 40, oft als Videospiel-Auteur bezeichnet, was seinen künstlerischen Anspruch unterstreicht. Der gebürtige Franzose heißt eigentlich David De Gruttola. Er begann als Musiker und schrieb die Soundtracks für Videospiele. 1997 machte er sich selbstständig und gründete in Paris das Videospiel-Entwicklerstudio Quantic Dream. Dort wurde auch Heavy Rain entwickelt.
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