Auf die harte Tour

Schmerz und Lust Karolina lebte 25 Jahre ein bürgerliches Leben als Ehefrau und Mutter. Dann ließ sie alles hinter sich – und wurde Domina

Jetzt bloß nichts falsch machen, denkt man, kurz bevor man an der Tür der Altbauwohnung klingelt. Bilder schießen einem durch den Kopf – Bilder von Frauen in Ledermiedern, die mit der Peitsche knallen, Befehle bellen und Männer mit unvorstellbaren Schmerzen quälen. Dann öffnet Karolina die Tür. Sie lächelt, ihr Händedruck ist sanft. Eine nette ältere Dame, geschminkt mit dunklem Lippenstift. Sie trägt schwarze Flipflops, ihre Fußnägel sind rot lackiert. Im Wohnungsflur steht ein Eisengitter mit Fesslungsschlaufen. An einer Wand hängen Ketten mit einem Holzbrett daran. Ein besonders perfides Folterinstrument? „Nein, eine Kinderschaukel. Die hänge ich auf, wenn meine Enkel zu Besuch kommen.“

Karolina wirkt jünger als 65. Seit sie Rentnerin ist, arbeitet sie nur noch ab und zu als Domina, erzählt sie. Ihr eigenes Studio hat sie aufgegeben. Manchmal miete sie in einem Gemeinschaftsstudio einen Platz für ein paar Stunden. Langjährige Stammkunden dürften auch mal für eine Session in ihre Wohnung kommen. Auf einem großen Tisch in der Küche liegt ein Kochbuch für das einfache Leben. Es gibt Filterkaffee in Tassen mit Leopardenmuster. Vor dem Fenster schneit es.

An diesem Dezembermorgen wird Karolina, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, ihre Geschichte erzählen. Wie sie mit 46 Jahren ihr Leben als Ehefrau und Mutter in der Provinz hinter sich ließ, allein nach Berlin zog und eine andere Welt entdeckte. Eine Welt, in der Schmerz, Demütigung und Lust untrennbar zusammengehören. Eine Welt, die sie fasziniert.

Karolina ist in einem 1.000-Einwohner-Dorf in Franken aufgewachsen. „Die bigotte Atmosphäre der Adenauer-Zeit kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“ Immer wieder wird ihr eingebläut, für ein junges Mädchen gebe es nichts Wichtigeres, als auf seinen Ruf zu achten. „Meine Mutter hat das Wort ‚Hure’ nie in den Mund genommen. Als Drohung, wie eine Frau endet, wenn sie sich nicht an die Regeln hält, waren die ‚gefallenen Frauen’ aber ständig präsent.“ Zur Abschreckung aufgerufen, wirkt die Welt der Prostituierten auf Karolina zugleich faszinierend. Außerhalb aller Moralvorstellungen zu stehen, kann auch wie ein Freiheitsversprechen klingen.

Erdrückende Lebensangst

Aus der Enge will sie fliehen, in eine Großstadt, etwas mit Mode machen. Die Mutter lässt sie nicht gehen. „Irgendwann hatte ich die ständigen Warnungen vor dem Enden in der Gosse auch verinnerlicht. Und daraus erwuchs erdrückende Lebensangst.“ In der Firma ihres Onkels macht sie eine Lehre zur Großhandelskauffrau. Als sie an den Wochenenden in einem Ausflugslokal kellnern möchte, verbietet es ihr Onkel. Das gehöre sich nicht. Ihre Stimme wird laut, wenn sie heute davon erzählt: „Der psychische Druck war so ähnlich wie in dem Film Das weiße Band“ – Michael Hanekes bedrückender Studie über die Repressionen einer engstirnigen Moral.

Mit 21 verliebt sich Karolina in einen jungen Mann, der eine Ausbildung zum Polizisten macht. Ihre Mutter setzt ihren Freund unter Druck. Das Paar heiratet überstürzt. „Dass die Ehe 25 Jahre hielt und wir in dieser Zeit auch glücklich waren, erscheint mir im Nachhinein erstaunlich.“ Im Gespräch betont sie mehrmals, dass sie ein schönes Leben hatte, einen bürgerlichen Traum lebte. Es ging stets aufwärts, sie bauten ein Haus, eine Tochter wurde geboren. Karolina arbeitete als Versicherungsvertreterin, verdiente gutes Geld. „Ich dachte damals nicht ständig über Prostitution nach, aber ich war neugierig. Ich hätte gern als Wissenschaftlerin eine Feldstudie gemacht, um rauszufinden, was das für Frauen sind.“

Dann zerbricht die Ehe. „Warum genau wir uns trennten, weiß ich heute nicht mehr. Manchmal leben zwei Menschen irgendwann nur noch nebeneinander her und stellen fest, dass sie nicht mehr zueinander passen.“ An einem Novembertag 1991 stellt Karolina ihre Möbel in eine Scheune, verteilt ihre Sachen bei Freunden, packt ein paar Koffer in ihren Golf und fährt nach Berlin – ohne zu wissen, was sie dort genau sucht. Sie mietet eine möblierte Wohnung, findet einen Job in der Marketingabteilung eines Privatradios.

In der Zeitung liest sie von der Prostituierten-Organisation Hydra. Kurz darauf steht sie in deren Büro, sie interessiere sich für Prostitution. „Haben Sie Geldprobleme?“, fragt die Beraterin. Als Karolina verneint, empfiehlt die Frau ihr dringend eine Therapie. Karolina lässt nicht locker. Sie geht zu Treffen von Prostituierten, die Frauen reagieren abweisend. Sie wolle nur „Huren gucken“, schleudern sie ihr entgegen. „Mir war dann auch schnell klar, dass ich das nicht machen könnte, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.“ Aber zum ersten Mal in ihrem Leben hört sie von Dominas. Früher hatten Männer manchmal zu ihr gesagt, sie mache ihnen Angst mit ihrem entschiedenen Auftreten – in der Provinz mit ihren klar umrissenen Geschlechterrollen kein Kompliment. Aber welche Eigenschaft könnte für den Job einer Domina passender sein?

Kein Rachefeldzug

„Es wird oft vermutet, eine Domina sei eine Frau, die sich an Männern rächen will – das ist Quatsch“, sagt Karolina. „Ich darf dem Kunden nicht das geben, was ich brauche, sondern ich muss ihm geben können, was er braucht. Im Rahmen dessen, was ich geben will.“ Nicht das Quälen bereite ihr Vergnügen, sondern wenn es ihr gelinge, den Kunden dadurch glücklich zu machen. Es klingt ein gewisser Berufsstolz heraus – wie bei einem Handwerker, der sich sicher ist, sein Metier besonders gut zu beherrschen.

Nach den Hydra-Treffen spricht Karolina in mehreren Studios vor, ob sie jemand einweisen könne. Schließlich findet sie eine Domina, die sie zwei Wochen zuschauen lässt. Als sie selbst anfängt, erklären ihr Kunden, wo sie die notwendigen Utensilien herbekommt. „Die besten Sachen findet man im Baumarkt“, sagt sie und führt in einen hohen Raum mit großen Spiegeln. Dort steht halb geöffnet ein alter Kastenkoffer. Darin ordentlich einsortiert: Handschellen, dicke Peitschen, dünne Peitschen, aus Leder, aus Plastik, eine rote Rolle, übersät mit Eisenspitzen – „die benutzt man eigentlich, um alte Tapeten von den Wänden zu reißen“ –, eine metallene Mundsperre, ein riesiger Kochlöffel. „Englische Erziehung“ heißt es, wenn sich die Domina als Gouvernante verkleidet und mit Teppichklopfer oder Kochlöffel schlägt.

Es gibt Masochisten, denen es nur um Schmerzen geht, aber die meisten Kunden verlangen nach einem Rollenspiel, in dem sie gedemütigt werden. Erfolgreiche Manager, die wegen der Übervorteilung eines Geschäftspartners das schlechte Gewissen plagt, kommen zu Karolina. Bodybuilder-Typen, die Frauen sonst nur rumschubsen, wollen mal von einer gefesselt und geschlagen werden. Man dürfe ihre Kunden aber nicht als kranke Freaks abtun, sagt Karolina. Es seien Menschen, die mit ihren Gewaltfantasien verantwortungsvoll umgingen und sie nur in einem geschützten Raum auslebten – bei einer Frau, die damit umgehen könne.

Die schlimmste Situation für eine Domina sei, wenn während der Session der Spannungsfaden reiße, wenn sie nicht mehr wisse, was sie als nächstes machen solle. Es gebe aber Tricks. Karolinas Stimme wird schneidend, ihr Domina-Ton: „Du stehst jetzt auf einem Bein und bewegst dich nicht! Ich beobachte dich die ganze Zeit.“ So mitten im Gespräch wirkt die Ansage reichlich komisch, aber Karolina trägt sie sehr energisch vor. Dann lacht sie. „Anschließend gehe ich aus dem Raum, trinke ein Glas Wasser und überlege mir, wie ich weitermache. Hauptsache, die Illusion bleibt für den Kunden erhalten.“

Von ihrer Familie und ihren alten Freunden wissen heute alle, was sie macht. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Eine gute Freundin war fassungslos. „Erst als meine Tochter ihr versicherte, dass ich immer noch derselbe Mensch bin, konnte sie sich langsam wieder annähern.“ In ihrer Rolle als Domina geht Karolina auch in die Öffentlichkeit. Sie arbeitet bei Hydra mit, spricht über ihre Arbeit in dem Dokumentarfilm einer Filmstudentin, sitzt in Talkshows. Ist sie stolz darauf, Domina zu sein? „Ich bin stolz darauf, meinen eigenen Weg gegangen zu sein. Egal, was die anderen denken. Es war meine Form der Emanzipation.“ Während sie das sagt, sieht sie sehr zufrieden aus – und ganz friedlich.

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